"Wenn Sie schlapp werden und murksen, fangen Sie lieber was anderes an."
Und wenn der strenge Ostpreuße merkt, dass der Angesprochene nach solchem Urteil den Kopf hängen lässt, muntert er ihn auf seine Weise auf:
"Immer frisch bleiben, das ist die Hauptsache."
August hat Mühe, frisch zu bleiben. Paris steckt ihm in den Knochen. Noch immer steckt er voller unbewältigter Bilder und Farben, die in ihm arbeiten. Erholung findet er im Kaiser-Friedrich-Museum, dessen Fassade wie ein mächtiger Schiffsbug aus den Fluten der Spree empor ragt. In den großen, hohen Sälen lässt August sich von der Vergangenheit einholen; den Zeugnissen ferner Jahrhunderte, die er bei seinem Pariser Bildersturm über Bord geworfen hatte: Botticelli... Veneziano... Signorelli - und auch wieder Rembrandt, Dürer, Cranach und van Eyck. Was ist Form ohne Farbe und Farbe ohne Form? Er übt wieder. Die Mühen des Murksens, fast wie in Düsseldorf, aber nun Mittel zum Zweck. Abendakt bei Corinth. Die Stimmung steigt: Bei Corinth komme ich gut vorwärts. Er ist trotz seiner Ruppigkeit doch ein Kerl, der einem, wenn man selbst mit will, viel beibringen kann. Er merkt es allem an, ob man frisch ist oder nicht... Eine Lust hab ich jetzt zum Arbeiten! Es klappt nur so... Zum Beispiel Kopieren im Kaiser-Friedrich-Museum: das Porträt einer blonden Dame von Botticelli, welches in wuchtigem Rahmen als Weihnachtsgeschenk an eine dunkelhaarige Dame in Bonn geht...
Wenn die Türen der Ateliers und Museen sich schließen, werden die Mühen belohnt durch die Lust am Zeichnen und Skizzieren. Nach Cranach kommt Unter den Linden. Nach Dürer Friedrichstraße und statt Veneziano Kurfürstendamm. Bewegungen festhalten, Spaziergänger, Straßenbahnen, Droschken, Pferdeschnauzen. Abgetakelte Kurtisanen in billigen Varietés. Arbeiter auf dem Gerüst. Verknäuelte Bahntrassen mit feuerspeienden Zügen. Gaskessel, Schornsteine, Omnibusse. Pardonrufe, gegen Leute rennen. Gott, Lisbeth, was ist die Welt, was will ich von ihr, was will sie von mir? Wozu das bisschen Leben? Ist es denn so schön?
Das Leben zeichnen - leichtfüßig, schwebend, mit Strichen, die wie hingeworfen wirken und doch ins Schwarze treffen, ins Wesentliche. Die Striche vibrieren, weil die Stadt in ihnen weiterlebt. Ein Skizzenbuch reicht nicht, zwei auch nicht, es werden fünf.
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Kreuzberg, Wassertorstraße. Mechanische Werkstätten Bernhard Koehler. Stempel. Gravuren. Metallwaren. Industriebedarf.
August geht sich bedanken.
Mit der U-Bahn, die hier auf Stelzen fährt, ist er hergekommen und hat auf dem Weg das muntere Treiben am Landwehrkanal und am Wassertorplatz betrachtet. Zum ersten Mal steht er seinem Gönner persönlich gegenüber: einem würdigen, hochgewachsenen Herrn mit tadellosem Äußeren. Das volle Haar schon ergraut, der Kinn- und Spitzbart gepflegt und gestutzt wie eine Buchsbaumhecke im Schlosspark Charlottenburg. Zwei wache Augen, die den jugendlichen Gast wohlwollend mustern. Die Begrüßung ist herzlich. Die Stimmung ist düster, weil Herr und Frau Koehler im Streit miteinander leben. Die Wände der Wohnung sind ebenfalls düster: vollgehängt mit Ölschinken der Jahrhundertwende. Schlachtpanoramen, Berglandschaften, Königsportraits. August bringt dafür nur mäßiges Interesse auf. Umso größer ist das Interesse Bernhard Koehlers an seinem jungen kunstbeflissenen Besucher.
Welche Stilrichtung er denn bevorzuge? Die Orientierung sei ja gar nicht mehr so leicht heutzutage... Naturalisten... Impressionisten... Secession. Ob er ihm denn etwas empfehlen könne? Ob er Lust habe, ihn hin und wieder in Galerien zu begleiten - standesgemäß selbstverständlich, im Automobil?
August blickt skeptisch. Nicht das Kunstinteresse seines Gastgebers ist das Problem, sondern der Platz... Er lässt seine Blicke durch das Wohnzimmer schweifen, über angelaufene silberne Dosen, bemalte Porzellanvasen, Miniaturen, Gobelins, geschnitzte Figuren, Gipsköpfe mit Staub...
"Wo wollen Sie denn hier noch weitere Bilder unterbringen?"
Frau Koehler seufzt und nickt, um anzudeuten, dass sie sich seit Jahren die gleiche Frage stellt.
"Ach, das ist kein Problem", lacht ihr Gemahl. "Was nicht mehr gefällt, kommt in den Keller und wird verkauft."
Das überzeugt August.
Ihr erster gemeinsamer Einkaufsbummel endet mit einer kompletten Serie colorierter Holzschnitte nach Renaissancemotiven. Der zweite mit einer Miniaturensammlung, in zwei Stunden für zweitausend Mark ersteigert. Onkel Bernhard ist begeistert. Seine Frau nicht. Er lässt sich von August die geheimnisvolle Kunst erklären, die einen Corinth, Slevogt und Liebermann umtreibt.
Der dritte Einkauf: zwanzig japanische Skizzenbücher für August, dazu mehrere Bilderrahmen, Farbkästen und Malutensilien. Auch für August, versteht sich. Im Auto geht es durch den Ameisenhaufen Berlin. Oft parken sie vor Restaurants, die August verständlicherweise nur von außen kennt oder gar nicht. Dinieren im Kaiserkeller ... Zu alldem kommt noch ein kleines monatliches Handgeld, auf dass der hoffnungsvolle Künstler keinen Mangel leide. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht und fühlt sich mitten in Preußen wie Gott in Frankreich.
August revanchiert sich auf seine Weise; mit kleinen Bildern, die den Gönner erfreuen: Angler am Rhein , die ihn wehmütig an das verträumte Bonn und verschwiegene Spaziergänge mit Lisbeth erinnern, oder Szenen aus den Cabarets und Varietés, in denen sie abends zuvor gewesen sind. Bernhard Köhler staunt, wie sein junger Freund mit wenigen flüchtigen Bleistiftstrichen die Bewegungen der Tänzerinnen und Gaukler wiedererweckt, die sie gemeinsam gesehen und bewundert haben.
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Lisbeth kommt!
Ihre Mutter ist auf Verwandtenbesuch und hat sie mitgenommen. In Onkel Bernhards Auto ist noch Platz frei. Er nimmt das junge Paar mit. Sie fahren nach Potsdam und nach Sanssouci. Sie wandern im Grunewald und folgen den Spuren, die August, das Skizzenbuch in der Hand, gelegt hat. Sie gehen zu zweit ins Deutsche Theater und sehen ein Stück, das wie für sie geschaffen ist: Frühlings Erwachen. Ein skandalumwitterter Autor namens Wedekind hat es geschrieben und ein gewisser Max Reinhardt bringt es als Regisseur auf die Bühne. Wendla und Martha, Moritz und Melchior heißen die Hauptpersonen. Sie sind nicht viel jünger als Lisbeth und August. Sie lieben sich. Sie rätseln. Sie leiden. Sie liegen auf einer Waldwiese nebeneinander und wissen nicht, was sie tun. Sie sterben. Manchmal ähneln sie dem Paar, das im Englischen Garten an seinen Irrungen und Wirrungen zu ertrinken drohte und nun in der Loge aufmerksam und atemlos verfolgt, wie fremde Schauspieler ihr ureigenstes Leben auf die Bühne bringen. Aber nicht das Sterben. August und Lisbeth sind weiter. Sie lassen sich nicht mehr von Schuldgefühlen und Selbstmordgedanken erschrecken. Sie brechen aus, um zueinander zu kommen. An einem schönen Frühlingstag werden sie Mann und Frau.
Frühlings Erwachen.
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Bonn, Juli, Sommerhitze, Kaffeetrinken im Hause Gerhardt.
"Kommt Ihr mit nach Paris?" fragt Onkel Bernhard und schaut August dabei vorwurfsvoll an.
"Du hast mich neugierig gemacht auf die Impressionisten“, setzt er hinzu. „Jetzt will ich mir welche kaufen!"
Wenn Bernhard Koehler einkaufen will, duldet er keinen Widerspruch. Lisbeth und August lassen sich nicht zweimal bitten. Auch Mutter Gerhardt stimmt zu, weil sie weiß, dass die beiden ungestümen jungen Leute einen ehrwürdigen Begleiter haben.
Der Schnellzug aus Köln bringt sie schnell ans Ziel. Sie steigen im Hotel Malesherbes ab. August wird ins Dachgeschoss verbannt, Lisbeth muss neben Onkels Zimmer wohnen. Doch das tut dem Frühlingserwachen keinen Abbruch.
Die Stadt ächzt unter der Julihitze. Wer Geld hat, ist in Deauville, Trouville oder an der Côte d'Azur. In den Museen mit ihren wuchtigen Mauern und dem gedämpften Licht ist es angenehm kühl. August ist ein sachkundiger Führer, und bald kennen und lieben Lisbeth und Bernhard die gleichen Bilder, die ihn selbst im Jahr zuvor gefesselt haben. Jetzt fesseln sie ihn nicht mehr. Sie gefallen ihm nur noch. Aber Onkel Bernhard ist auf den Geschmack gekommen...
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