Er hat eine Vorgeschichte.
In einer Schwabinger Pension wartet Lisbeths Bruder Walter auf August Macke. Und warum? Walter hat das Abitur bestanden! Und nun erfüllen ihm die Eltern seinen sehnlichsten Wunsch: Eine Italienreise… Aber nicht allein! Da bietet sich der Freund der Schwester als Begleiter an.
Und Lisbeth?
Wie es der Zufall will, weilt sie auch in der bayrischen Hauptstadt. Als hätte sie etwas geahnt. Sie hat sich gern zum Zweck des Porträtiert-Werden-Sollens nach München schicken lassen und wohnt bei Tante und Onkel Brüne, einem Malerehepaar. Die Wohnung der Gastgeber beflügelt Lisbeths romantische Empfindungen, ist sie doch vollgestellt mit alten Möbeln, Kleidungsstücken, Ritterrüstungen und Bildern. Nun fehlt nur noch der leibhaftige Ritter, der nach seinem Burgfräulein schaut… In diese Atmosphäre platzt die Nachricht von der Ankunft Augusts.
1905. München im März.
Vorfrühling. Föhn. Verführerisch. Laue Lüfte, die den Atem nehmen und die Liebenden himmelhochjauchzend zu Tode betrübt machen. Im Süden leuchtet unter dem blauen Himmel das kalte Weiß der Alpenkette, zum Greifen nahe.
Als Ritter August kommt, sind noch acht Tage Zeit, bevor es nach Italien losgeht. Acht Tage für Lisbeth und acht Tage für ihn, der pünktlich klingelt, um sein Burgfräulein abzuholen. Lisbeth kann es kaum erwarten, mit ihm allein zu sein, frei zu sein, unten, auf der Straße, in den Parks, in – Italien?
„Ach, ich käme so gerne mit!“
August lacht und fängt den Ball auf: „Deinen Bruder lassen wir einfach stehen… Nein, nein, das geht nicht… Stell dir das mal vor… Aber nächstes Mal, da fahren wir zusammen!“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
Sie liegen sich in den Armen. August ist voll von Italien-Sehnsucht und Lisbeth-Sehnsucht. Und dazu der Föhn. Er fällt von den Bergen hinunter, er überfällt, kriecht in die Liebenden hinein und macht sie schwerelos. Sie erkennen sich nicht wieder, mitten in München. Die Stadt quirlt um sie herum wie ein großer Strudel. Die Bauersfrauen vom Viktualienmarkt und die Bohémiens mit ihren extravaganten Damen. Die Droschkenkutscher, Zeitungsjungen und stämmigen Kellnerinnen im Dirndl. Niemand fragt, ob sie verlobt sind oder verheiratet oder arm oder reich. Sie sind einfach August und Lisbeth. Sie wandern durch die Kunsthallen, Hand in Hand, Arm in Arm, versinken in den Bildern Böcklins und Moritz von Schwinds, saugen das Licht auf und die Farbe und das Leben.
Trunken wie Schmetterlinge verlassen sie die Stadt auf unbekannten Pfaden, bis sie nach Stunden den Starnberger See erreichen. Im gleichen Maße, wie sie dabei das Gefühl für die Zeit verlieren, wächst ein Gefühl zwischen ihnen. Am Ufer bleiben sie stehen und schauen fasziniert auf die flirrende Wasserfläche mit den dreieckigen Tupfern der Segelboote. Irgendwann meldet sich der Hunger und der Durst. Sie finden ein schlichtes Gasthaus und nehmen Platz auf seinen rohen Holzbänken. Fröhliche Menschen, Kinder, Küsse, Gesang… Wie alle Gäste bestellen sie Brot und schäumendes Bier. Es kommt in großen Steinkrügen und schmeckt köstlich. August, den unvermeidlichen Skizzenblock auf den Knien, zeichnet die Bauernburschen am Nachbartisch. Zu ihrer Überraschung erkennen sie sich wieder: "Das bist ja du! Das bin ja ich!"
August schenkt ihnen das Blatt zum Abschied. Großes Hallo und Dankeschön und Auf Wiedersehn . Dann zieht er mit Lisbeth weiter, ohne zu wissen wohin. Ein lichter Kiefernwald nimmt sie auf; nein, keine Rehe, keine Pferde. Noch nicht. Der Waldboden ist von weichem Gras bedeckt. Sie lassen sich fallen, sie träumen und tasten... Sie zittern. Sie zögern. Sie sind unsicher.
Die Bahn bringt sie nach München zurück.
Der letzte Abend kommt.
Die Nacht wird August bereits im Zugabteil verbringen. Auch Lisbeths Rückkehr nach Bonn steht kurz bevor, mit einem hoffentlich vorzeigbaren Porträt im Gepäck. Das nicht Vorzeigbare ist ihr allerdings wichtiger… Und August wird nach der Italienreise wieder in Düsseldorf sein und fleißig Bühnenbilder entwerfen. Wann werden sie sich wiedersehen? In vier Wochen? Zwei Monaten?
In solche Gedanken verstrickt betreten sie den Englischen Garten. Mit der Pracht seiner Narzissen, Krokusse und Blausterne erscheint er ihnen wie der Garten Eden; geschaffen nur für sie . Ziellos schlendern sie durch den weitläufigen Park. „Ach, hätte ich doch meine Staffelei dabei!“, seufzt August angesichts der sorglos promenierenden Menschen im Abendlicht… Hier ein Motiv… und dort eins… Wenigstens den Skizzenblock führt er mit sich; wie immer und überall. Bewundernd verfolgt Lisbeth, wie der dünne, zerbrechliche Bleistift in Augusts kräftiger Hand auf dem Papier hin- und her gleitet, innehält – bis sich die weiße Fläche mit Spaziergängern, Paaren oder spielenden Kindern gefüllt hat, die nur aus wenigen Linien bestehen und doch leben.
Sie gehen weiter. Der Gedanke an den Abschied begleitet sie unerbittlich. Er lässt sich nicht abschütteln wie die Tannennadeln einer Waldwiese oder die Krümel einer Brotzeit. Als sie den Kleinhesseloher See erreichen, ist es schon fast dunkel. Die letzten Spuren der Abenddämmerung entfachen auf dem Wasser ein Farbenspiel in rot und gold und lila. Verzaubert bleiben August und Lisbeth stehen. Die Weidenbüsche am Ufer treiben schon aus und legen einen schützenden Mantel um das junge, ratlose Paar.
Adam, Eva und ihr ganz privates Paradies. Der Apfel. Noch zögern sie. Der Erdboden ist warm. Aufgeheizt von Sonne und Föhn wirkt er wie eine verführerische Bettstatt, die allen neugierigen Blicken entzogen ist. Niemand sieht die beiden ersten Menschen. Sie sehen nur sich selbst; schattenhaft. Langsam verschwinden die Schatten in der herabsinkenden Dunkelheit.
Lisbeth spürt Augusts Hand, die suchend und fordernd unter Rock und Bluse wandert; die verharrt und an Stellen streichelt und liebkost, die sie erröten lassen... Dazu die Küsse… überall… Begann einst so die Versuchung im Garten Eden? Wie ein betörendes Parfum umgibt sie der Duft unzähliger Frühlingsblumen. Einatmen, küssen, die Augen schließen, treiben lassen… Aber… ABER.
Es knackt im Gebüsch, raschelt.
Kerzengerade sitzen sie da. Ein Schatten huscht vorbei, Flattern, Flügelschlagen und ein lautes Klatschen auf der Wasseroberfläche. Erleichtert fallen sie sich in die Arme.
Weitermachen?
Nein, August.
Doch, Lisbeth.
Wir können doch nicht einfach...
Wir können. Wer auf der Welt sollte uns hindern?
Ach, August... Eigentlich möchte ich es auch... Aber denk'
doch mal nach...
Meine kleine Carmen... Hier kommt es bestimmt nicht aufs Nachdenken an!
Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll mit uns: Ein armes Künstlerpärchen... ein schäbiges Dachzimmer in Schwabing...
Ja! Gute Idee! Wie der arme Poet von Spitzweg, aber diesmal zu zweit. Du und ich, Lisbeth.
Was würden meine Eltern sagen? Wirst Du mich heiraten können? Werden sie einwilligen?
Ich werde jeden Morgen die Dachstiege hinunterklettern und meine Bilder verkaufen. Irgendwo. Und immer, wenn ich zurückkomme, habe ich einen Strauß roter Rosen dabei. Für meine Lisbeth und niemand anderen in der Welt...
... ein Laib Brot und etwas Butter wäre auch nicht schlecht...
Ob das Geld dafür noch reicht? Ach, Lisbeth... Unser Leben könnte so schön sein und ist doch so hoffnungslos...
Lisbeth spürt die Melancholie im Herzen ihres Freundes und ahnt trotz der Dunkelheit den erschreckenden Ausdruck tiefster Traurigkeit in seinen Augen.
Ihr wollt Mann und Frau sein? Heiraten? Ihr seid doch viel zu jung... Und der Herr Gemahl? Maler ist er? So nennen sich viele arme Leute... Eine Familie ernähren? Eine Wohnung in der Belle Etage bezahlen? Ein Hausmädchen? Schlagt Euch das aus dem Kopf. Ihr seid doch noch halbe Kinder. In ein paar Jahren, vielleicht..... Vielleicht auch nicht.
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