„Bei Allah!“, rief Latifa, kaum, dass sie in Hörweite war. „Ich denke: Omar wird schon alle Krüge mit Wasser gefüllt haben und ich kann gleich zwei mitnehmen. Aber nein, der Herr ruht sich lieber aus, hält Maulaffen feil und lässt Allah einen guten Gott sein! Wahrscheinlich glaubt er, nicht am Brunnen, sondern mit der Wasserpfeife im Kaffeehaus zu sitzen, um mit den Männern über die Weiber zu tratschen!“ Ihre Stimme wurde noch schärfer: „Ich muss das Baba ghanush vorbereiten, die Kinder haben Hunger!“ Omar schaute nur wortlos, stützte sich auf und verbiss sich ein Stöhnen.Aus seiner sonst so braunen Haut schien alle Farbe gewichen, seine Augen hatten den gewohnten Glanz verloren und er keuchte hörbar: „Ich wurde eben von einem Skorpion gestochen, mir ist jetzt nicht nach Witzereißen! Bist du von allen guten Geistern verlassen, mich hier so zu überfallen? Lass mich jetzt erst einmal in Ruhe und vor allem mit deinem Baba ghanush zufrieden!“ Latifa stemmte beide Arme in die Hüften und wetterte: „So, du wurdest also von einem Skorpion gestochen? Das ist noch lange kein Grund, dass du mich auf mein Wasser, das ich so dringend brauche, warten lässt! Ich werde dir helfen …“ Doch sie wurde unsicher und erklärte, nun etwas versöhnlicher: „Stell dich nicht so an! Konntest du nicht besser aufpassen! Wie kann man nur einen Skorpion übersehen?“ Sie beruhigte sich und prüfte kritisch den Stich: „Also Omar! Ich kann nicht viel erkennen. Diese Stelle hier ist leicht gerötet und etwas geschwollen – daran stirbt man nicht!“
„Aber der Skorpion ist doch giftig!“ Omar sah seine Frau verstört und vollkommen fassungslos an.
„Giftig? Dass ich nicht lache! Nicht jeder Skorpion bringt einen Menschen um!“, belehrte sie ihn. „Eine Kobra ist giftig, wirklich giftig! Aber ein Skorpion? Lächerlich, einfach lächerlich, aber das kriegen wir wieder hin! Wir haben Wasser, Tücher und heilenden Tee. Du wirst sehen, wie schnell das Gift damit ausgetrieben wird!“ Sie betrachtete ihren Mann mit hellen, spöttischen Augen.
Plötzlich wurde sie nachdenklich: „Pass auf: Wenn du schon mal dieses Missgeschick …“ Sie hielt inne und formulierte den Satz mit verschlagener Miene neu:
„Das trifft sich gut!“
„Was trifft sich gut?“ Er schaute verständnislos.
„Na, dass dich ein Skorpion gestochen hat!“
„Das ist nicht dein Ernst!“ Omars Gegenwehr war schwach. Er erhob seine Augen zum Himmel. „Schau dir die Geier an! Sie kreisen schon. Sie warten nur auf eine Gelegenheit, um herabzustoßen. Dabei ist es ihnen egal, ob ich noch am Leben bin. Wichtig ist, dass ich mich nicht mehr wehren kann. Diese Kreaturen! Die kommen in Scharen, trampeln auf mir herum und zerren mein letztes bisschen Leben aus dem Leib. Dann liege ich still und bin ein gefundenes Fressen für diese gefiederten Teufel!“„Nun ist es aber gut mit dieser Schmierenkomödie!“„Schmierenkomödie? Ich sah vor dem Unglück noch keine Geier am Himmel kreisen! Erst kurz nach dem Skorpionstich, da waren sie plötzlich da!“ Er flüsterte mit geistesabwesenden, verschwörerischen Augen: „Es scheint, als hätten sich Skorpion und Geier abgesprochen!“
„Ja, ja! Fragt sich jetzt nur noch, wer wen geschickt hat! Waren es die Geier, die sagten: ‚Hey, Skorpion, stich doch schnell mal den Omar, wir hatten lange nichts mehr zu fressen!’ Oder führte gar der Skorpion die Regie und sagte: ‚Hey, Geier! Ich steche jetzt den Omar, aber ihr müsst mich dann vor ihm beschützen, weil ich euch etwas zum Frühstück besorgt habe!’“ Latifa schaute zu Boden und fuhr mit dem Fuß über die Überreste des Skorpions. „Aber aus dem Schutz scheint nicht viel geworden zu sein!“, stichelte sie, strich ihrem Mann über den Kopf und flüsterte: „Armer Omar! Ich habe es doch nicht böse gemeint, als ich sagte, dass es sich gut trifft! Eigentlich wollte ich damit sagen, dass wir, wo dich nun einmal unglücklicherweise dieser dreimal verfluchte Skorpion gestochen hat, noch unseren Nutzen aus diesem Unglück ziehen könnten!“ Omars halb geschlossene Augen öffneten sich augenblicklich. „Weib, bist du noch bei Sinnen? Du willst einen Nutzen aus meinem Unglück ziehen?“
„Aber klar doch!“ Sie machte eine Pause: „Ich sage nur: Hassan Ibn Odd Set!“, und in ihren Augen funkelte es geschäftstüchtig. Omar stöhnte, aber dieses Mal nicht wegen der Schmerzen: „Hassan Ibn Odd Set, der Dorfälteste!“ Jetzt begriff er: „Du willst um mein Leben wetten?“ Sie bejahte und nickte heftig mit dem Kopf, schüttelte ihn aber gleich wieder resolut. „Nicht ich werde um dein Leben wetten, sondern Hassan Ibn Odd Set! Du bist lediglich das Wettobjekt!“ „Wettobjekt? Geht’s noch? Kennst du eigentlich Hassan Ibn Odd Set? Du weißt doch, dass der nicht rechtschaffen ist und die Leute betrügt!“, keuchte er. „Wenn sie betrogen werden wollen?“ „Komm jetzt!“, versuchte Omar, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, „Wette! Mach nicht so ein Aufsehen! Wir gehen still in unsere Hütte und du machst mich wieder gesund – fertig!“ „Aber es fallen doch genügend auf seine üblen Machenschaften herein!“, verbiss sie sich in ihren Gedanken und spann ihn weiter: „Hast du nicht begriffen? Jetzt sind wir einmal dran, den Reibach zu machen! Für uns! Verstehst du, für uns allein! Omar, das ist unsere Chance, endlich eine zweite Ziege zu bekommen oder vielleicht sogar einen Ochsen! Das wäre doch gelacht, wenn uns das nicht gelingen würde! Wir wissen, dass dieser Stich (Allah möge uns beistehen) nicht tödlich sein wird! Du musst einfach nur so tun, als ob du mit dem Tode ringst! Also nur laut genug schreien, dich zu unserer Hütte schleppen und auf unser Lager werfen! Glaub mir, du wirst sehen, wie sehr das Hassan Ibn Odd Set imponieren und wie sehr er uns bei unserem kleinen Trick helfen wird. Weil er dann glaubt, sich damit selbst am meisten zu helfen!“ „Trick? Wieso?“ Omar hatte plötzlich Mühe, sich zu konzentrieren. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. „Ganz einfach!“, erklärte Latifa geduldig: „Hassan Ibn Odd Set macht die Leuten glauben, dass du an diesem Stich sterben wirst, aber in Wirklichkeit setzt er heimlich auf deine Genesung. Nur so kann er ein Geschäft machen, nur so macht er immer seine Geschäfte!“ Sie ließ ihn nicht mehr antworten, schob sich unter seinen Arm und flüsterte: „Hab Vertrauen, Omar, alles wird gut! Los, stütz dich auf mich, mach ein schmerzerfülltes Gesicht, vergiss nicht, laut wehzuklagen, und lass mich nur machen!“ „Da brauche ich mich gar nicht zu verstellen!“, jammerte Omar wahrheitsgetreu. Latifa winkte ab und schob sich noch weiter unter Omars Arm. Sie taumelte unter seinem Gewicht und verließ mit ihm mehr schwankend als laufend den Brunnen: „Hilfe, Hilfe! Omar wurde von einem wilden Skorpion gestochen, seht nur, wie sehr er leidet und wie schlimm er zugerichtet ist!“, rief sie unaufhörlich und stöhnte laut, weil sie unter dem Gewicht ihres Mannes fast zusammenbrach. Omar gab die zweite Stimme in diesem Trauerspiel, sodass das laute Gemeinschaftsgezeter seine Wirkung nicht verfehlte.
Die stille Ortsmitte füllte sich rasch mit Menschen, die das laute Spektakel mitleidig oder sensationslüstern betrachteten. „Wetten, dass der das nicht mehr lange macht!“, hört man einen rufen. „Ich halte dagegen“, meinte ein anderer, „der Stich eines Skorpions ist zwar heimtückisch, aber nicht immer tödlich!“, und glotzte wie ein stupider Komodowaran.
Es dauerte nicht lange, da ertönte von hinten eine herrische Stimme: „Platz da, aus dem Weg!“ Der Besitzer der Stimme, Hassan Ibn Odd Set, ein mittelgroßer, fetter Mann mit faltigem Bulldoggengesicht, stechendem Blick, wehendem Gewand und breitem Leibgürtel, bahnte sich resolut einen Weg durch die gaffende Menge: „Oh Omar, konntest du nicht aufpassen? Weißt du nicht, dass der Stich eines Skorpions tödlich ist?“, begann er ohne Umschweife und mit täuschend echtem Mitleidsgesicht. „Du weißt, was das Reglement in solch einem Fall vorsieht?“ Er betrachtete Omar lauernd und mit kalten Augen. Als dieser nicht antwortete, setzte er nach: „Nein? Macht nichts, ich sag’s dir besser noch einmal! Also: Begib dich direkt in deine Hütte, beschleunige deinen Schritt, gehe nicht über Umwege und ziehe bei mir noch keine 400 Sultanos ein!“ Danach heulte er mit falschem Mitleid wieder: „Ach, Omar, ich hörte, was dir widerfuhr. Wie konnte das nur geschehen? Allah ist mein Zeuge, das wir alle mit dir fühlen. Sei unbesorgt, ab jetzt geht alles seinen geregelten und oasischen Gang. Jetzt im Augenblick errichten meine Sklaven beispielsweise gerade das mobile Wettbüro vor deiner Hütte. Das ist wichtig! Du weißt doch, wie sehr die gesamte Dorfbevölkerung darauf erpicht ist, mit dir ‚mitzufiebern’ und deine Genesung mit einer Wette zu unterstützen. Sag nun frei heraus, was ich noch für euch tun kann!“ Ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, setzte er nach: „Armer Teufel! Tut es denn sehr weh?“ Dann näherte er sein faltiges Doggengesicht an Omars Ohr und sabbelte: „Stirb mir ja nicht hier auf der Straße, hörst du! Bei mir steht noch keine einzige Wette zu Buche. Du weißt doch, zehn Prozent von allem gehört dir oder deiner Witwe!“ Er lachte verächtlich und zischte: „Nichts für ungut! War nur’n Scherz! Also los, ab! Husch, husch, ab in die Hütte!“ Er rieb sich hinter ihrem Rücken die Hände und rief ihnen mit lauter und aufgeräumter Stimme nach: „Und die Hütte darfst du keinem anderen außer mir öffnen! Denk an das Reglement! Hörst du?“
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