Einen gefälligen Bescheid sieht erfurchtsvoll entgegen
Friedrich Otto Meyer, Gutsbesitzer
Das Amtsgericht Adorf im Vogtland [2]
Nachdem Albert Lenk den Bescheid erhalten hatte, dass er als Jurist an das Amtsgericht Adorf im Vogtland versetzt werden soll, zeigte er sich dieser Nachricht gegenüber aufgeschlossen. Für ihn bedeutete das eine neue berufliche Chance.
So packte er alle seine Habseligkeiten, die in einen Koffer passten, und fuhr am 1. Februar 1925 mit dem Zug nach Adorf. Das Amtsgericht stand am Marktplatz, genau gegenüber dem Rathaus. An der oberen Querseite des Marktplatzes lag die alte Apotheke, an der unteren Querseite die Kirche. Schräg gegenüber befand sich der Gasthof „Zum Goldenen Löwe“. Das Gericht war in dem alten Amtshaus untergebracht. Eine breite Treppe führte zu einer Tür hinauf. Durch sie trat man in eine Halle mit dicken Steinfließen und einer Gewölbedecke. Im Erdgeschoss war hinter dicken Mauern und kleinen Fenstern der Sitzungssaal. Darin stand ein großer, gusseiserner Etagenofen. Er wurde vom Wachtmeister, der zugleich Leiter des Gefängnisses und Hausverwalter war, geheizt. Wer dem Ofen zu nahe saß, wie etwa der Angeklagte, erlitt Hitzequalen. Wer weit entfernt vom Ofen saß, etwa auf dem Podium hinter dem Richtertisch, fror. Im ersten Stock des Amtshauses befanden sich die Geschäftsräume, im zweiten Stock die Dienstwohnung des Gerichtsvorstandes. Außer ihm war ein zweiter Richter, ein Assessor, tätig. Er war mit einer Tochter aus einer Familie der Stadt Adorf verheiratet.
Albert Lenk bekam im Grundbuchamt einen Platz zugewiesen. Der Raum, in dem ringsherum Regale voller Akten standen, war durch eine Reihe brusthoher Stahlschränke in zwei Teile getrennt. Die Stahlschränke waren mit einer dicken Holzplatte abgedeckt, die wie eine Theke wirkte. Jenseits der „Theke“ stand das rechtssuchende Publikum. In den Schränken lagen feuersicher die Grundbücher. Im Nebenzimmer saß der Amtsgerichtsrat. Im Grundbuchamt wirkte der erfahrene, im gesamten Gerichtsbezirk bekannte und beim Publikum als Berater beliebte „Schustizinschpekter“ Burckhardt. Am 1. Arbeitstag erhielt Albert Lenk sein Monatsgehalt ausgezahlt. Es war das erste Geld, dass er im erwählten Beruf verdiente: 103,25 RM. Es war für ihn ein denkwürdiger Augenblick, als er diesen „Unterhaltszuschuss“ einstreichen konnte. Er war kein Zuschuss, sondern er sollte allein seinem Unterhalt in Zukunft dienen. Er war froh, jetzt unabhängig zu sein und machte tolle Pläne für die Verwendung des Einkommens, das für ihn fürstlich erschien.
Am Gericht war ein zweiter Referendar tätig. Dieser war als Amtsanwalt eingesetzt. Er war ein gewandter, erfahrener, einige Jahre älterer ehemaliger Justizbeamter des gehobenen Dienstes, der nach seinem Studium nun im Vorbereitungsdienst für den Richterdienst stand. Er hatte bereits einen Bekanntenkreis am Ort und führte Albert Lenk in die Gesellschaft ein. Eine Unterkunft fand Albert Lenk in 400 m Entfernung vom Gericht im Erdgeschoss eines alten Hauses in einer Nebenstraße des Marktplatzes. Das Zimmer war kalt und dunkel und in ihm befand sich ein gusseiserner Etagenofen aus urväterlichen Zeiten. Die Vermieterin wohnte mit ihrem Sohn, einem ledigen Inspektor der Stadtverwaltung, zusammen. Albert Lenk zahlte eine geringe Miete und gehörte sozusagen mit zur Familie. Man nahm ihn mit in den Gasthof „Zum Goldenen Löwen“, wo außer dem Kollegen ein Forstreferendar und ein Volontär bei der großen Teppichfabrik Claviez, einem bekannten Unternehmen und Hauptbetrieb der Stadt Adorf, einen Mittagstisch hatten. Der Volontär, Leutnant a.D., Jurist ohne Examen und Corpsstudent, war von seinem Vater hier in Adorf auf der „letzten Station“ untergebracht worden. Der Volontär war lebenslustig und gewandt, aber leichtsinnig und versoffen. Er wohnte bei einer jungen Lehrerswitwe, wohin er den Kreis vom Mittagstisch gelegentlich einlud. Im Gasthof „Zum Goldenen Löwen“ aß man für 1,20 RM und trank dazu ein kleines Bier oder eine Tasse Kaffee, je nach Laune und Vermögensstand. Der unverheiratete Löwenwirt kochte selbst. Die Gäste waren sehr angetan von seinem Essen. Außer einem gelegentlichen Hotelgast oder durchreisenden Vertretern war die Besucherzahl im Gasthof nicht groß. Der historische Gasthof in Adorf hatte ein „Goethezimmer“, denn Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) hatte auf der Durchreise nach Franzensbad oder Karlsbad zweimal hier gewohnt. Daher nahm der Gasthof für sich in Anspruch, der „Löwe“ in Goethes „Hermann und Dorothea“ zu sein. Die Salzburger Exulanten, so belegten es die Dokumente und Wandbilder, habe Goethe von dem Gasthof aus gesehen, wie sie von Oberfranken kommend, an der Apotheke vorbei über den Marktplatz zogen. Die Gelehrten streiten sich auch heute noch darüber, wo der „Löwe“ der Dichtung gelegen hat. Die Apotheke war jedenfalls auch noch da.
Eines Tages wurde der Provisor der Apotheke Mitglied der Mittagstisch-Runde. Als er den abwesenden Apotheker, der sich auf einer Reise befand, für einige Zeit vertrat und wegen des Nachtdienstes in der Apotheke wohnen musste, lud er die Mittagstisch-Runde in den Gewölbekeller der alten Apotheke ein. Die Mitgliederrunde hatte ja täglich gute Unterhaltung und kritisierte bei diesen Gelegenheiten die Kleinstadt Adorf und deren Spießer. Einen ganzen Abend lang mischte der Provisor im Gewölbekeller für seine Gäste mit den verschiedensten Essenzen wunderbare Schnäpse. Je länger der Abend dauerte umso so mehr entfalteten die Schnäpse ihre Wirkung: Die Heiterkeit innerhalb der Trinkgemeinschaft nahm immer mehr zu. Besonders der Forstreferendar entpuppte sich als unterhaltsamer Bursche, der seine Witze mit einer Reihe von Standardredensarten krönte.
Adorf war Grenzort zur Tschechoslowakei. Der Ascher Zipfel von Böhmen ragte weit über Adorf hinaus nach Norden. Der sächsische Brambacher Zipfel reichte im Süden dicht an Franzensbad. Der Schmuggel blühte. Pferde aus Ungarn und Vieh aus Mähren wurden etappenweise bis in die Grenzdörfer gebracht, von wo sie in das sächsische und bayrische Hinterland eingeschleust wurden. Kam der Zoll dahinter, gab es Strafprozesse mit vielen Angeklagten. Das kleine Gericht in Adorf hatte seine großen Tage. Es wurde denunziert, gelogen und falsch geschworen. Die tschechischen Zeugen blieben meist aus, wenn es zur Verhandlung kam. Die deutschen Zeugen wurden oft krank. Man musste schon Land, Leute und Landschaft kennen, um die Schmugglerromantik zu überwinden. Im Winter setzte man den Angeklagten in die Nähe des Ofens. So kam er ins Schwitzen. Waren die Zuschauerbänke voller Leute aus der Umgebung, waren Duft und Klima im dunklen Sitzungssaal bemerkenswert. Es war gut, wenn man die nähere Umgebung, die Täler, Grenzwiesen und die einsamen Schmugglerpfade aus Spaziergängen her kannte. Drüben in Böhmen wurde beim Eid, so sagte man, eine Kerze angezündet und neben der Bibel und einem Kruzifix auf den Richtertisch gestellt, um die Wahrheit zu erhalten. Im Amtsgericht Adorf ging es ohne eine solche Stimmungskulisse zu.
In einem Prozess um eine Pferdeherde hatte es 7 oder 8 Zeugen gegeben. Es waren Bauern aus den Grenzdörfern. Keiner von ihnen wollte auch nur einen von den ungarischen Gäulen im Stall des Angeklagten gesehen haben. Als alle widersprüchlichen Angaben vorgetragen worden waren, ließ der Richter den Hauptzeugen vortreten. Er ermahnte ihn nochmals eindringlich zur Wahrheit und nahm dessen Beteuerung entgegen: „So ist es gewesen und so will ich es beschwören.“
Das Gericht und die Zuschauer erhoben sich von ihren Stühlen. „Heben Sie die rechte Hand zum Eid“, forderte der Richter den Zeugen auf. Doch ehe die Eidesformel vorgesprochen wurde, hörte man den Richter sagen: „Und nun nehmen Sie mal die linke Hand vom Rücken und legen Sie sie vor sich auf den Tisch.“ Der Zeuge nahm die linke Hand vom Rücken, legte sie vor sich auf den Tisch, wurde blass und zögerte. Daraufhin fragte der Richter eindringlich: „Ist das alles die reine Wahrheit oder wollen Sie noch etwas sagen, ehe Sie sich unglücklich machen?“
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