Gemeinsam ist Mallarmé, Hine und Barthes die Bedeutung des Lesens für die Literatur. Auf der einen Seite wird das Lesen als zwischenmenschlicher Akt interpretiert, auf der anderen Seite als kreativer Schöpfungsakt. Zentral bleibt dabei die Idee von Literatur als etwas, das über das gedruckte Wort hinaus geht und ein Eigenleben im Rezipienten entwickelt. Bei Hine ist dies symbolisch mit dem Buch als Subjekt ausgedrückt, das sich potentiell ebenso in die Kommunikation einbringen kann wie ein Gesprächspartner. Barthes weigert sich mit seinem „Mord“ am Autor, die Literatur und die Textinterpretation vollkommen unter das Subjekt des Autors zu stellen und erhöht die eigenständige Stellung des Lesers und der Sprache selbst. Mallarmés herausfordernde Poesie ist an sich bereits ein Plädoyer für das Lesen und Weiterdenken der Literatur im Rezipienten, indem sie dem Klang der Wörter, der „phonetische[n] Gestalt und Musik“ 6, eine zentrale Rolle im Verständnis des Textes zukommen lässt, wie es auch Paul Valéry in Erinnerung an seinen Kollegen beschrieben hat.
Das Verständnis eines Buches – und damit in diesem Falle auch eines Textes – als (lebendiger) Körper weist indirekt aber ebenso in jene argumentative Stoßrichtung der Digitalisierungsgegner und Skeptiker gegenüber modernen, nicht-materiellen Vertriebswegen eines Textes wie beispielsweise dem online verfügbaren Text, dem E-Book oder der Smartphone-App. So spricht Roland Reuß etwa davon, „dass das Wort gerade nicht virtuell, sondern im Gegenteil Fleisch werden will“ 7, um damit eine Rückbesinnung auf die traditionelle Buchhandlung und deren persönlicher Beratung als „Bildungsanstalt“, die auch das einzelne Buch als Bildungsobjekt preist, einzuläuten. 8Hier wird das Buch als „Fleisch gewordener“ Körper jedoch aus einer anderen Motivation heraus symbolisch aufgeladen. Es geht Reuß nicht um die kommunikationsrelationale Darstellung von Autor, Buch und Leser und auch nicht um das Buch als potentiell körperliches, künstlerisches Medium. Reuß unterstellt dem Wort – als pars pro toto für die Literatur – die eigene Intention des Zum-Buch-gedruckt-werden-Wollens. Dies würde im Umkehrschluss ein digitales Publizieren als Verrat an der Literatur bezeichnen, da es gerade das „Fleisch werden“ verhindert, also gegen die eigene Intention ankämpft. Die spielerische Idee des Buches als lebendiger Körper weist in meinen Augen aber vor allem auf ein anderes Themengebiet hin. Es macht die möglichen Überschneidungspunkte zwischen den Künsten stark. Es zeigt, dass ein Buch nicht nur in Tradition zu anderen Büchern, literarischen Medien und einer mündlichen Tradition steht, sondern ebenfalls zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Das Buch, verstanden als Körper, lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten sowohl auf den Inhalt als auch auf dessen formale Gestaltung und visuelle Wirkung. Dabei erreicht der Körper eines Buches besonders dann eine herausragende Stellung, wenn das eintritt, was Kandinsky in Bezug auf Kunstwerke wie folgt beschreibt: „[...] das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist, oder nicht. [...]“ 9. Der Leser wird zum Betrachter, zum visuell und physisch Erfahrenden des literarischen Werks. Er lässt sich nicht nur auf den Inhalt des Textes ein, sondern begegnet ihm ebenfalls über das Visuelle, über die Form und Materialität, ganz ähnlich der Annäherung an eine Skulptur.
Bereits Mallarmé zeigt im Langgedicht Un Coup de dés / Ein Würfelwurf Ähnliches.
Abbildung 1
Ausschnitt aus Un Coup de dés / Ein Würfelwurf.
Indem der Autor durch Zeilensprünge und versetzte Anordnung das Weiß des Papiers und dessen visuelle Wirkung als zum Text dazugehörig versteht, tritt das Visuelle des Gedichts in den Fokus. Gleichsam beinhaltet es eine poetologische Konnotation, in dem es auf das Gedicht als eine literarische Form verweist, bei der Reduktion, Präzision und Verdichtung wichtige Gestaltungsmittel sind. 10Der Text wirkt in seiner Anordnung auf die Wahrnehmungsfähigkeit des Lesers ein.
Jacques Rancière hat über Mallarmés Poesie in diesem Zusammenhang treffend geäußert, dass auch das Weiß der Seite, auf der ein Gedicht geschrieben steht, „der Bewegung und der Textur des Gedichtes selbst“ angehört. Weiter führt er aus: „Die Oberfläche der Schrift ist die Stätte eines Statt-Findens. Das Weiß vollendet das Gedicht und ist die Rückkehr zur Stille, von der es ausgegangen ist, aber dann ist es weder dasselbe Weiß noch dieselbe Stille wie zuvor. Es ist eine bestimmte Stille, wo der Zufall des beliebigen Blattes besiegt worden ist.“ 11 Nach dem visuellen und inhaltlichen Eindruck des Gedichts ist der Rezipient also ein anderer. Er wurde durch die Gesamtwirkung des Gedichts beeinflusst. Das Besiegen des beliebigen Blattes ist das, was auch mit Kandinskys innerer Notwendigkeit der Form in Bezug auf den Inhalt angedeutet wurde. Ein Werk hat in diesem Verständnis vor allem in seiner Wechselbeziehung zwischen formaler Gestaltung und inhaltlicher Ebene jene Intensität und Gültigkeit, die es zu etwas Größerem werden lässt. Der Gefahr der Beliebigkeit wird durch eine aus sich selbst heraus entstandene, konzeptuelle Verschränkung zwischen Inhalt und Form begegnet. Weiterführend könnte man ergänzen, dass ein Werk niemals nur das ist, was man sieht oder auf der ersten Ebene liest, sondern bereits eingebettet ist in einen Kontext, etwa den des Mediums und der gesellschaftlichen, sozialen und künstlerischen Zeit, in der es steht. Schlägt man hier nun die Brücke in den Bereich der Bildenden Kunst, würde das heißen, dass eine Skulptur sowohl das verwendete Material als auch die zugrundeliegende Idee und handwerkliche Umsetzung zusammen mit dem kulturgeschichtlichen Umfeld in sich trägt und als solches dem Rezipienten begegnet. Das Buch, verstanden als Skulptur, könnte in eine ähnliche Stoßrichtung führen. Der Begriff „skulpturaler Text“, der in dieser Arbeit eingeführt wird, soll dies aufgreifen und eine Brücke zwischen den Bereichen Bildende Kunst und Literatur schlagen.
Natürlich lässt sich eine Fülle an Autoren finden, die jenen Gedanken aufgegriffen und auf Bücher übertragen haben, Autoren, die Inhalt und Form konzeptionell zusammen denken. Arno Schmitts Monumentalwerk „Zettels Traum“ sei hier als ein Beispiel für eine aus innerer Notwendigkeit der Textidee entspringende formale Gestaltung angeführt. Dass es gerade in jüngerer Zeit im Verlagsbereich ebenfalls zu einem vermehrten Aufkommen solcher Buchprojekte kommt, die sich nicht damit begnügen, Inhalt zu präsentieren, mag unter anderem einer gewissen Form von allgegenwärtiger, dystopischer Zukunftsprognose das gedruckte Buch betreffend geschuldet sein. Interessanterweise sind es eben nicht nur Kleinverlage und Lyriker, die als Gegenreaktion auf die Digitalisierungswelle eine Rückbesinnung auf das haptische Buch und dessen ästhetische Wirkung vollziehen (beziehungsweise nie damit aufgehört haben). Auch etablierte Verlagshäuser wie S. Fischer, Klett-Cotta oder Suhrkamp gehen mit etlichen ihrer Bücher in eine haptisch ausgefeilte Richtung. So wurde der Roman „Indigo“ von Clemens J. Setz durch Judith Schalansky, die sich neben ihrer Arbeit als Autorin auch als Buchgestalterin einen Namen gemacht hat, in verschiedenen Schriftformen gesetzt, mit etlichen sich an Fotokopien und handschriftlichen Notizen anlehnenden Seiten. Der Einband aus Wolkenmarmorpapier erinnert an das Äußere eines Ordners oder einer Aktenmappe, was die teils dokumentarisch anmutenden Elemente des Textes wie Briefe und Notizen ästhetisch aufgreift.
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