Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Aber findest du nicht, dass man sich trotzdem etwas darunter vorstellen kann?“
„Hmm. Doch, schon. Ich stelle mir so einen ganz kaputten Papierflieger vor, einen, der schon lange nicht mehr fliegen kann.“
„Und was stellst du dir unter „Worten wie zerstaubte Papierflieger“ vor?“
Marie zog die schmalen Schultern ein wenig in die Höhe und ließ sie wieder fallen.
„Weiß nicht genau, irgendwie so was wie alte Worte, ein bisschen so wie mein zerfleddertes Deutschbuch.“
Catharina lachte kurz auf. „Mir geht es ganz ähnlich, ich denke an Worte, die irgendwie ein bisschen langweilig sind, abgenutzt und ein bisschen stumpf wie ein altes Taschenmesser.“
Marie sah sie voller Anerkennung oder Stolz an und Catharina dachte kurz, sie habe diesen Gesichtsausdruck mit ihrem Vergleich zu zerstaubten Papierfliegern im Mädchen hervorgerufen.
„Demut“, dachte sie, „wir sollten uns in Demut üben, auch ich, wenn ich wieder einmal denke, nun habe ich jemandem zu einer Verstehensleistung verholfen“, als sie sah, wie Marie die Apfelschale – in einer einzigen langen Schlange – vorsichtig vor sich hin und her baumeln ließ, bevor sie sie auf den Teller gleiten ließ.
Catharina, die in der Zwischenzeit mehrere weitere Äpfel von ihrer Schale befreit hatte, begann nun, die Äpfel zu halbieren, das Kerngehäuse zu entfernen und die Apfelhälften einzuschneiden, um sie für den Belag des Kuchens vorzubereiten. Sie hatte früher nie gerne Kuchen gegessen. Diese Leidenschaft hatte sie erst durch Marie entwickelt, die Apfelkuchen über alles liebte, am allermeisten selbst gebackenen. Pflaumen- und Kirschkuchen belegten die Plätze zwei und drei der Marie-Brandnerschen-Rangliste, weshalb es ein fester Bestandteil der Marie-Catharina-Tag-Zeremonie geworden war, mindestens jede zweite Woche, meistens jedoch jede Woche, während der gemeinsamen Stunden und Küchengespräche einen Kuchen zu backen. Marie durfte den Löwenanteil des Kuchens dann meist mitnehmen und in der Klasse oder beim Hockey-Training verteilen. An manchen Tagen behielt auch Catharina einen größeren Teil, um ihn ihren Nachhilfeschützlingen anzubieten.
Als Marie, wie üblich hüpfend, die zwei Treppenabsätze nach unten genommen hatte und längst wieder zu Hause war, war Catharina noch damit beschäftigt, die Überreste ihres gemeinsamen Nachmittags aufzuräumen. Dabei ließ sie einzelne Teile des Nachmittags noch einmal Revue passieren. Bei der Erinnerung an Maries Erfindungsreichtum schmunzelte sie unwillkürlich. Wummelige Würstchen... Wolkenwale, Wolkendrachen und Wolkenschafe . Irgendwo, weit in den Tiefen ihres Gedächtnisses vernahm sie dabei den Widerhall einer Gedichtzeile. Oder war es ein Liedtext gewesen? Natürlich, das war es. Nun kam auch die Melodie Ton für Ton zu ihr zurück, und leise summte sie die Zeilen, die aus den Untiefen ihrer Erinnerung an die Oberfläche drangen. Mit dir würd’ ich glatt über den Eissee geh’n, jederzeit mit dir Wolkenschafe stehl’n, dem Meer auf den Grund geh’n und dir auf den Leim, ans andere Ende der Welt, nie zurück....
Bis dahin kam sie noch, doch der Rest des Textes blieb verschollen. Nun, das war wenig verwunderlich. Wie lange war es jetzt her, dass sie das Lied zum letzten Mal gehört hatte? Sie rechnete nach.... zehn Jahre? Viel verwunderlicher war, dass sie die Stimme, die das Lied gesungen hatte, nach all diesen Jahren noch immer so deutlich hören konnte. Da sang sie, mitten in ihrem Kopf.
Catharina schüttelte, halb lächelnd, halb unwillig den Kopf über sich selbst und brachte den Nachhall der singenden Stimme zum Verstummen, indem sie das Radio anstellte. In den nächstbesten Song, der gerade gespielt wurde, stimmte sie kraftvoll mit ein.
„Hast du denn eigentlich noch nie gelogen?“, Marie sah aufmerksam zu Catharina hinüber, die gerade dabei war, Zwiebeln zu schneiden.
Catharina zögerte einen Augenblick, bevor sie antwortete. Sollte sie die Wahrheit sagen? Sie verhedderte sich in ihren Gedanken. Nicht, dass sie gezweifelt hätte, ob Marie die Wahrheit zuzumuten wäre. Marie würde es zweifelsohne verkraften zu hören, dass auch ihre verehrte Catharina nicht frei von Fehl und Tadel war.
Das war es nicht. Nein, Catharina war unsicher, ob sie der Frage, die nahezu zwangsläufig als nächstes gestellt werden würde, gewachsen wäre. Die Frage, warum und in welcher Situation sie gelogen habe. Welchen Inhalt die Lüge gehabt habe.
Doch die Frage zu verneinen würde bedeuten, Marie zu belügen. Und wie Marie sehr gut wusste, und Catharina ebenso, war Catharina im Grunde ihres Herzens eine heißblütige Verfechterin der Wahrheit.
„Doch, ich habe schon gelogen.“ Catharina sprach die Worte bedächtig aus, halb in der Hoffnung, Marie wäre zu sehr mit Malen beschäftigt, um sich wirklich für ihre Worte zu interessieren, halb in der Gewissheit, dass Marie weiter nachfragen würde.
„Und warum sagst du dann, dass Lügen nicht gut ist?“ Maries Frage lautete ein klein wenig anders als erwartet, lief aber dennoch in eine Richtung, die der vorhergesehenen gefährlich ähnlich war.
Diesmal zögerte Catharina noch länger. Sie schnitt die Zwiebel in äußerst feine Stücke und wischte sich anschließend etwas umständlich die Finger an der gestreiften Schürze ab, bevor sie antwortete.
„Weil ich mir nicht sicher bin, dass es richtig war, zu lügen.“
Catharina sagte die Wahrheit. Sie gestand sich mit diesen Worten etwas ein, was sie jahrelang versucht hatte, vor sich selbst zu verbergen. Sie zweifelte. Sie zweifelte immer wieder daran, ob die Entscheidung, damals zu lügen, wirklich richtig gewesen war. Oder einer der größten Fehler ihres Lebens.
„Und weil ich denke, dass die Wahrheit stärker ist als die Lüge. Lügen machen das Leben grau.“ Da war es. Sie hatte es gesagt, ohne weiter nachzudenken.
„Und einsam. Lügen macht einsam.“
„Bist du einsam?“, Marie zog fragend die Augenbrauen hoch.
Catharina riss sich aus den eigenen Gedanken zurück, warf ihren Kopf nach hinten und antwortete: „Nein. Ich hab doch dich! Und Jule.“ Als wisse sie genau, dass von ihr die Rede sei, strich die Katze ihr in diesem Augenblick um die Knie, offensichtlich bereit für eine Streicheleinheit.
Marie kicherte ein wenig, erhob sich von der Küchenbank, schlenderte zur Anrichte und schmiegte sich schließlich an Catharinas Seite. Nachdenklich schob sie ein paar Zwiebeln auf dem Brett umher.
„Und wenn ich nicht da bin?“, im Tonfall des Mädchens schwang etwas Sorge mit. „Ich bin doch nur zweimal die Woche da.“
„Auch wenn du nicht hier bist, geht es mir gut, meine Süße“, bei diesen Worten legte Catharina den Arm um das Mädchen und drückte sie kurz.
„Also ist dein Leben nicht grau, weil du fast immer die Wahrheit sagst“, Marie nickte zufrieden.
„Und als du gelogen hast, hattest du da etwas ausgefressen?“, die kleinen Grübelfalten erschienen erneut auf ihrer Stirn.
Catharina spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog.
„Nein, Marie. Ich hatte nichts ausgefressen. Es war eher eine Art Notlüge. Ich wollte jemandem damit helfen.“ Und ich hoffe zutiefst, dass es tatsächlich geholfen hat. Wie unser Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich nicht gelogen hätte?
„Mama sagt, Notlügen sind ganz okay. Sie meint, es gibt schwarze Lügen und graue und weiße. Die weißen sind die Notlügen. Schwarz ist, wenn man was Schlimmes angestellt hat und es nicht sagt oder wenn man über jemanden petzt, obwohl der gar nichts gemacht hat. Was die grauen sind, weiß ich nicht mehr genau.“
„Tja weißt du, und genau da bin ich mir nicht mehr sicher, Marie. Ich dachte lange Zeit auch, Notlügen sind zur Not in Ordnung, sind sozusagen weiße Lügen. Wenn es zum Beispiel wirklich darum geht, jemandem zu helfen. Heute weiß ich es nicht mehr so recht.“
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