Als Effekt der menschlichen Natur muss die Knechtsgestalt aber ontologisch etwas Eigenständiges sein. Denn sonst wäre das Trennungsstück zwischen den beiden Naturen innerhalb der menschlichen Natur zu finden, und der Widerspruch würde wiederkehren, dass die menschliche Natur Eigenschaften unterdrücken könnte, die ihr übergeeignet werden. Aber geschichtlich zu sein, kann auch als eine Eigenschaft der göttlichen Natur betrachtet werden. Deshalb ist die Knechtsgestalt ein Effekt beider Naturen und ihres gemeinsamen irdisch-geschichtlichen Vollzugs. Kommt dieser Vollzug zum geschichtlichen Abschluss, so bricht sie ab, und die Übereignung göttlicher Eigenschaften auf die menschliche Natur gelingt widerstandslos.
Die Unterscheidung von zeitweiser Knechtsgestalt und dauerhafter menschlicher Natur löst auch das Problem, das innerhalb des Luthertums aufgetreten ist unter dem Stichwort Krypsis oder Kenosis. Zwischen den Gießener und den Tübinger theologischen Lehrstühlen wurde im 17. Jahrhundert eine Debatte geführt, ob Christus im Stand der Erniedrigung (griechisch: Kenosis) seine göttlichen Eigenschaften nur verborgen hatte, sie aber im Verborgenen doch in Gebrauch genommen hatte (Krypsis), oder ob er sie wirklich abgelegt hatte, während er sie zugleich besaß. Hätte die göttliche Natur ihre Eigenschaften der menschlichen Natur in Knechtsgestalt übereignet, so wären die Widersprüche unvermeidlich, die innerhalb der menschlichen Natur auftreten würden. Die Krypsis löst also das Problem nicht, das mit dem genaus maiestaticum in die Christologie eingeht. Die Knechtsgestalt verhindert dagegen real, dass die göttliche Natur ihre Eigenschaften in der menschlichen Natur entfaltet, obwohl sie sie ihr schon übereignet hat. In der Knechtsgestalt wird der Effekt dieser Übereignung geschichtlich blockiert.
Kommentar und Weiterführung
Das genus maiestaticum ist ein Modell, das aus Luthers Ubiquitätsgedanken hervorgegangen ist. Die Ubiquität wiederum war Luthers Modell, um die Personeneinheit der beiden Naturen in Christus möglichst konsequent durchhalten zu können. Wenn Christus im Abendmahl gegenwärtig ist und wenn er in Personalunion beider Naturen besteht, dann ist er auch in seiner menschlichen Natur im Abendmahl gegenwärtig. Ansonsten würde man seine persönliche Gegenwart von den Naturen ablösen oder die zwei Naturen auf eine reduzieren. Deshalb bedarf es in der Tat eines Modells, das diese Anforderung erfüllt. Nur wenn man keine Realpräsenz Christi im Abendmahl behauptet, entfällt eine entsprechende Anforderung.
Ist aber die Realpräsenz auf das genus maiestaticum festgelegt? Zunächst erfordert die Realpräsenz beim Abendmahl nicht, dass Christus an allen Orten sein kann. Die Ubiquität kann zwar die Realpräsenz erklären, ist aber selbst begründungsbedürftig. Das genus maiestaticum versucht, diese Begründung zu geben. Wird damit aber nicht zu viel verlangt, wenn es doch zunächst nur darum geht, dass Christus beim Abendmahl präsent ist? Könnte also die Realpräsenz Christi auch ohne genus maiestaticum begründet werden?
Darauf kann eine ökumenische Antwort gegeben werden, die die Anliegen sowohl der Lutheraner als auch der Reformierten zugleich berücksichtigt. Man könnte die Prämisse fallen lassen, dass der Ausdruck „Christi Leib“ ausschließlich eine menschliche Eigenschaft beschreibt. Interessanterweise sind sich Reformierte und Lutheraner darin einig, dass sie für Gott keine Leiblichkeit zugrunde legen. Für sie bedeutet „Leib“ ausschließlich eine Eigenschaft der menschlichen Natur. Nun kann man aber unter „Leib“ das Vollzugsorgan eines Subjekts verstehen. Dieses Vollzugsorgan ist sowohl in sich als auch außer sich: Es verbindet sich mit Anderem durch seinen Vollzug. Dann hat auch Gott einen Leib. Ingolf Dalferth hat dieses Vollzugsorgan Gottes, durch das er mit anderem in Beziehung tritt [40], mit dem Heiligen Geist identifiziert. [41]Folglich wäre Gottes Leib im Wirken des Heiligen Geistes präsent. Damit lässt sich ein wesentliches Anliegen der reformierten Christologie einbringen. Nach Zwingli ereignet sich die Gnade allein im Heiligen Geist, der selbst kein Vehikel brauche, um seine Kraft wirken zu lassen. [42]Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass auch Calvin eine pneumatologische Lösung an die Stelle des genus maiestaticum setzt. Einigkeit hätte darüber erzielt werden können, dass der Geist das Vollzugsorgan Gottes ist, wenn es etwa heißt, dass der Geist vom Vater und vom Sohn „ausgeht“ und dem Fleisch in Christus „mitgeteilt“ wird (1041f.). Wenn Christus in den Einsetzungsworten des Abendmahls sagt: „Das ist mein Leib“, so spricht er vom göttlichen Leib, also vom Heiligen Geist. Es ist dann der Geist, der im Abendmahl ausgeteilt wird. Das hätte nicht nur ein interkonfessioneller Kompromiss zwischen Lutheranern und Reformierten sein können, der der Terminologie beider Richtungen gerecht wird. Es wäre auch für das Luthertum eine Möglichkeit, die Realpräsenz Christi zu begreifen, ohne ein überlastetes Konzept der Ubiquität und mit ihr das genus maiestaticum vertreten zu müssen.
Zwei Folgeprobleme hätten allerdings die Lutheraner dann zu lösen. Zum einen wäre offen, wie das „Blut“ im Kelchwort zu verstehen ist. Hat Gott auch ein eigenes Blut? – Zum anderen droht das Abendmahlsverständnis wegzukippen, wonach Leib und Blut Christi „nicht allein geistlich“, sondern „mündlich“ (799) empfangen werde. Wie kann der Heilige Geist geschmeckt werden?
Das erste Problem ließe sich relativ leicht lösen: Unter „Blut“ kann nämlich die menschliche Natur verstanden werden, wenn es heißt: „Das ist mein Blut des Bundes“ (Mt. 26,28; Mk.14,24) oder gar „der neue Bund in meinem Blut“ (Lk. 22,20; 1.Kor. 11,25). Das Blut der menschlichen Natur Christi ist dann nur im Gedächtnis an die Knechtsgestalt anwesend, die geschehen und nun abgelegt ist. Der neue Bund ist besiegelt worden durch das menschliche Blut Christi, das in Knechtsgestalt vergossen worden ist. Nicht das Blut muss dazu anwesend sein, sondern der Bund Gottes mit den Gläubigen ist gegenwärtig. Entsprechend könnte die Formel „mein Blut des Bundes“ die Präsenz des Bundes herausstellen und nicht die Präsenz des Blutes Christi. Das ist deswegen möglich, weil sich in dieser Formel auf „Blut“ zwei Genitive beziehen: „mein“ und „des Bundes“. Es muss sich also nicht um „mein Blut“ handeln, sondern um das „Blut des Bundes“, der von Gott („mein“) eingesetzt worden ist.
Das zweite Problem, wie Leib und Blut Christi „mündlich“ empfangen werden, wenn der Leib der Geist ist und das Blut die abgelegte Knechtsgestalt, bedarf dagegen einer genaueren Prüfung. Denn die Lutheraner weisen ja die römisch-katholische Transsubstantiationslehre zurück, wonach sich Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandeln. Schon Luther hat bekannt: „Ich glaube, daß Brot und Wein bleiben“ (H 226). Im Sakrament empfangen wir die Vergebung der Sünden „darum, daß die Wort da stehen“ (H 228). „Nicht am Brot und Wein, nicht am Leibe und Blut Christi, sondern am Wort“ (ebd.). Das Wort ist daher das Verbindungsstück, das die Identifikation zwischen Brot und Leib überhaupt erst erreicht. [43]Zwar weist Luther zurück, dass das Brot den Leib Christi nur „bedeute“ (ebd.). Und doch wird die Identifikation nur vermittelt durch das Wort. Wie in der katholischen Messe Brot und Leib Christi durch die Wandlung vermittelt wird, so wird sie im lutherischen Verständnis durch das Wort vermittelt. Das Wort ist das Vorzeichen, das überhaupt erst das Gleichheitszeichen wirkt. An dieser Stelle besteht ein Vorrang des Bedeutens vor dem Sein: Brot und Wein bedeuten das auf sinnliche Weise, was das Wort sagt. In diesem Bedeutungsrahmen aber sind Brot und Wein der Leib und das Blut Christi.
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