„Ketamin“, sagte Steinmann. „Er hat Ihnen Ketamin gespritzt. Ein Narkosemittel, das auch als Partydroge verwendet wird und dementsprechend auf dem Markt leicht zu besorgen sein dürfte. Er hat ihnen genug verabreicht, um Sie auszuschalten, aber zu wenig, um Sie sofort das Bewusstsein verlieren zu lassen.“
„Ach, was!“, giftete ich. Auf die gut gemeinten Erklärungen des alten Haudegens konnte ich verzichten. Seine sachlichen Worte hörten sich in meiner gereizten Gemütslage wie der reinste Hohn an. Ich konnte es nicht verhindern, dass die Tränen zurückkehrten.
„Mein Gott. Ich habe zuhören müssen, wir Sandra starb! Dieser Mistkerl hat meine Frau vor meinen eigenen Augen umgebracht!“
Ich schluckte meine Wut und Tränen herunter. „Moment!“, murmelte ich und starrte Bobby an. Verlegen wich er meinem Blick aus. „Wieso kommt ihr auf die Idee, dass ‚Er’ es war? Hat er, ich meine, er hat doch nicht?“, stotterte ich und ließ das Ende unausgesprochen.
„Doch“, bestätigte Steinmann und nickte. Er sah in diesem Moment zu Tode betrübt aus. „Ein ‚R’, wie bei den anderen Opfern.“
„Ich weiß nicht“, brauste Bobby unerwartet auf. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn! Die anderen Opfer waren alle Kriminelle! Sandra passt überhaupt nicht in das Opferschema!“
„Vielleicht sind wir ihm zu dicht auf den Fersen“, mutmaßte Steinmann. „Vielleicht will er uns eine Warnung zukommen lassen.” Er trat näher ans Bett und ergriff meine Hand. „Was immer seine Gründe auch sind, ich verspreche Ihnen, Erik, hoch und heilig; wir werden diesen Bastard zur Strecke bringen!“
Steinmann erwartete uns bereits im Flur des heruntergekommenen Mehrfamilienhauses. Vor der Haustür hatte er zwei Polizisten platziert, für den unwahrscheinlichen Fall, dass einige findige Journalisten einen Weg durch die zahlreichen Polizeisperren fanden und sich in Dinge einmischten, die Steinmann so lange wie möglich von der Öffentlichkeit fernhalten wollte. Sie nickten unverbindlich, als wir forschen Schrittes an ihnen vorbei in den dunklen, kühlen Flur schritten. Sie kamen mir vage bekannt vor, wahrscheinlich von der letzten Weihnachtsfeier unseres Reviers, allerdings konnte ich keine konkrete Erinnerung mit ihnen verbinden.
Noch bevor mein Blick auf Steinmann fiel, schlug mir der ranzige Geruch nach altem Fett und Schimmel entgegen. Die penetranten Schwaden aus dem nahe gelegenen Chinaimbiss vermischten sich mit dem uralten Mief der vergangenen fünfzig Jahre zu einer luftraubenden Herausforderung für unsere Nasen. Das Treppenhaus zeigte symptomatisch für die ganze Wohngegend die typischen Anzeichen stetigen Zerfalls, der sich seit Jahrzehnten ungestört ausbreitete und über die Jahre eine ehemals aufstrebende Wohnsiedlung zu einem Düsseldorfer Problemviertel hatte verkommen lassen.
„Wir stecken tief in der Scheiße“, brummelte Steinmann zur Begrüßung. Er hielt seine Hände tief in seinen Anzugtaschen vergraben und machte keine Anstalten, sie für einen Händedruck herauszuholen. „Eine Mordserie mitten in Düsseldorf.” Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn wir nicht bald mit ein paar brauchbaren Hinweisen aufwarten können, wird uns die Staatsanwaltschaft die Hölle heißmachen.“
„Der gleiche Täter wie bei Bruno Bauer?“, fragte ich.
„Sieht so aus. Entweder ein Einzeltäter oder eine Gruppe. Beides wäre übel. Düsseldorf als Schauplatz eines Bandenkrieges wäre der Super-GAU.“
Er blickte die Treppe hinauf. Von oben waren undeutlich die Stimmen mehrerer Männer zu hören. Wahrscheinlich die Spurensicherung, die Millimeter für Millimeter den Tatort absuchte. Geduld war die wichtigste Eigenschaft, die zu ihrem Beruf gehörte. Ich beneidete sie nicht darum.
Durch die mittlerweile zahlreichen, modernen Krimiserien war ihre Arbeit nicht einfacher geworden. Gerade amerikanische Fernsehserien vermittelten gerne den trügerischen Eindruck, jeder Mordfall wäre im Grunde nichts anderes als die Suche nach ein paar Faserspuren oder Blutstropfen, die mit Hilfe absonderlicher Wunderapparaturen sofort den gesuchten Verdächtigen mit Namen, Anschrift und Vorstrafenregister ausspuckten. Leider war die Polizeiarbeit im normalen Leben nicht so einfach. Selbst wenn sich Spuren des Täters finden ließen, führten sie nur in den seltensten Fällen zu einer Verhaftung. Dafür waren zu wenige Menschen genetisch erfasst oder die Spuren reichten für eine eindeutige Identifizierung nicht aus. Manchmal beneidete ich die Fernsehfahnder um ihre heile Welt der schnellen Fälle, die am Ende jeder Folge zweifelsfrei den Täter dingfest machen konnten. In der Realität blieben leider viel zu viele Verbrechen ungesühnt.
Bevor wir die baufällige Treppe zum Tatort erklimmen konnten, hielt mich Steinmann am Arm zurück. „Die Presse darf nichts davon erfahren, bevor wir nicht ein paar Fahndungserfolge vorweisen können“, stellte Steinmann das Offensichtliche fest. „Haben wir uns verstanden?“
Wir bestätigten unisono murmelnd unsere Zustimmung. Solche Ansprachen kannten wir von Steinmann bereits. Im Grunde war Steinmann Politiker, der auf dem schmalen Grad zwischen Polizei- und Öffentlichkeitsarbeit wandelte. Er hatte mit dem bemitleidenswerten Los zu kämpfen, die zahlreichen Interessensgruppen aus Politik, Justiz und Presse gleichzeitig zufriedenstellen zu müssen, ohne die aktuellen Ermittlungen durch ein ‚Zuviel‘ an Information zu gefährden. Gleichzeitig musste er gegenüber der Staatsanwaltschaft Rechenschaft über den Ermittlungsfortschritt ablegen, selbst, wenn es keinen gab. Auch um diese Aufgabe beneidete ich ihn nicht. Sein Leben war eine einzige Berg- und Talfahrt; der Stress ein ständiger Begleiter, gleichzeitig jedoch ein ein unangenehmer Mitreisender. So wie heute . Seine Haut wirkte aschfahl und er sah aus, als könnte er etwas Schlaf gut gebrauchen.
„Was wissen wir vom Opfer?“, warf Bobby fahrig ein. Unbewusst rieb er seinen Ellenbogen und starrte angespannt die Treppe hinauf.
„Tja“, brummte Steinmann. „Wieder ein alter Bekannter. Walter Merkmann.“
„Merkmann?“, fragte ich ungläubig. „ Der Merkmann?“
Der Name brachte unangenehme Erinnerungen hoch. Vor etwa einem Jahr hatte Walter Merkmann in Düsseldorf traurige Berühmtheit erlangt. Sein Freispruch war über Wochen das vorherrschende Thema in der Presse gewesen. ‚Gericht spricht Kinderschänder frei’, hatte eine der großen Boulevardblätter getitelt. Doch der empörte Aufschrei in der Bevölkerung war nicht unberechtigt. Walter Merkmann war der Polizei aufgefallen, als er zufällig mit einem internationalen Kinderschänderring in Verbindung gebracht wurde, der nach langjähriger und mühevoller Ermittlungsarbeit zerschlagen werden konnte. Sichergestellte Schriftstücke deuteten darauf hin, dass Merkmann ein guter Kunde der Bande gewesen war. Der alte Fuchs, ein Kinderarzt im Ruhestand, hatte es jedoch ausgezeichnet verstanden, seine eigenen vier Wände sauber zu halten. Auf seinem Computer waren nur ein paar wenige, verschwommene Bilder zu finden gewesen, die dem Gericht auch mit der dubiosen Verbindung zu offiziell verurteilten Kinderschändern nicht für eine Verurteilung ausgereicht hatten. Auch die Anzeigen zweier Familien, die Merkmann sexueller Übergriffe gegenüber ihrer Kinder bezichtigten, waren kurz darauf aus unerfindlichen Gründen zurückgezogen worden. Es war dem Gericht nichts anderes übrig geblieben, als Merkmann aufgrund der dürftigen Beweislage freizusprechen.
Nach dem Urteil hatte Merkmann den Wohnsitz gewechselt und war in diese Gegend gezogen. Dieser Stadtteil konnte mit Fug und Recht als gesellschaftlicher Abstieg für einen wohlhabenden Rentner gewertet werden. Trotz gewaltiger Geldabgänge von seinen Konten konnte ihm jedoch nie zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass zwischen ihm und den anklagenden Familien Schmiergelder geflossen waren. Die Polizei war machtlos, doch auch der soziale Druck ebbte mit der Zeit ab. Nach ein paar Wochen hatte das mediale Interesse an Merkmann merklich nachgelassen und der Vorfall war im Grundrauschen der alltäglichen Berichtserstattung zur Randnotiz verkommen. Merkmann hatte sich danach aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er war nach diesen Ereignissen nicht wieder polizeilich in Erscheinung getreten, jedenfalls bis heute.
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