„Dann pass wenigstens auf, dass du uns nicht direkt über den Jordan beförderst. Ich schwitze hier Blut und Wasser neben dir, bei Deiner wilden Fahrweise!“
Bobby grunzte. „ Jordan? Wasser, was? Hast du noch mehr kluge Witze auf Lager? Wenn ja, dann solltest du sie besser loswerden, solange ich vollends damit beschäftigt bin, diesen Kübel auf der Straße zu halten.”
Die nächste Ampel sprang auf rot und fluchend bremste er den Wagen ab. Der Wagen bockte ein bisschen, als das ABS steuernd eingriff, trotzdem ließ sich die schwere Limousine wie gefordert um die Kurve lenken. Das blinkende, mobile Blaulicht auf dem Dach erhellte für einen kurzen Augenblick den erschreckten Gesichtsausdruck einer Passantin.
„Ich hätte noch ein paar davon“, griente ich. „Aber zum Glück weiß ich, was gut für mich ist.“ Ich wechselte das Thema. „Was ist überhaupt mit dir los?“, rätselte ich. „Du bist doch sonst nicht so einfach aus der Ruhe zu bringen. Und jetzt macht dir das bisschen Wasser bereits zu schaffen?“
Bobby nahm nur für einen kurzen Augenblick die Augen von der Straße und warf mir einen nichtssagenden Blick zu. „Ich weiß auch nicht“, murmelte er. „Mir schlägt dieser Fall auf den Magen. Und dann die Sache mit Marie…” Er verstummte, als würde er es nicht wagen, seinen letzten Gedanken weiterzudenken.
Er brauchte nicht mehr zu sagen. Marie hatte ihn vor etwa drei Monaten verlassen, nur wenige Monate vor ihrer Hochzeit. Die ganze Geschichte klang, als wäre sie aus der Feder eines mittelmäßigen Autors von Schundromanen entsprungen, aber in Bobbys Fall war sie leider traurige Realität. Niemand wusste, warum sie nach sieben Jahren aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war. Sie hatte weder Bobby, noch ihren gemeinsamen Freunden jemals eine Begründung geliefert. Sie war aus unser aller Leben getreten, ohne einen Blick zurückzuwerfen oder sich mit uns aufzuhalten. Keinen von uns hat sie danach wieder kontaktiert.
Bobby war zurückgeblieben, ein Häufchen Elend, nur noch ein Schatten seines früheren Selbst. Seine Seele war gebrochen, auch wenn er äußerlich nach wie vor von beeindruckender Statur war. Bobby war ein Bär von einem Mann, mit breiten, muskulösen Schultern, wildem ungebändigten Haaren und mit einem Gesichtsausdruck, der potenzielle Gewalttäter innerhalb weniger Sekunden zu lammfrommen Christen bekehren konnte.
Als Marie ihre Koffer gepackt und in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Haus gelaufen war, hatte er jedoch irgendwie seinen Halt in der Welt verloren. An jenem Tag, als er mich völlig verzweifelt anrief und nach einem offenen Ohr suchte, habe ich Bobby das erste Mal in meinem Leben weinen gehört.
Morgen war der Tag, an dem sie hatten heiraten wollen.
Ich legte Bobby hilflos meine Hand auf die Schulter und hoffte, dass es irgendwie tröstend wirkte. Wir waren zwar gute Freunde, vielleicht sogar die Besten, hatten es bisher aber immer vermieden, über Gefühle zu sprechen. Ein Klaps auf die Schulter und ein gemeinsames, schweigsames Bier waren selbst in dieser Krise immer das Höchste der Gefühle gewesen. Manchmal wünschte ich, es wäre anders gewesen, aber selbst ich fühlte mich im Angesicht der tiefen Trauer, die Bobby empfand, einfach überrannt und überfordert. Ich hoffte, ihn durch meine Freundschaft wenigstens ein bisschen von seinem Unglück ablenken zu können. „Tut mir leid“, erwiderte ich ungelenk. „Daran hatte ich nicht gedacht.“
„Ach, Pustekuchen!“ Er machte eine Wischbewegung mit der Hand, als wollte er nicht nur die trüben Gedanken, sondern auch gleichzeitig die grauen Regenwolken beiseite wischen. „Das ist Vergangenheit! Und wir haben im Moment andere Probleme.“
Sein Gesichtsausdruck strafte seine Worte Lügen. Trotzdem sprang ich auf seinen kläglichen Versuch, das Thema zu wechseln, an.
„Was weißt du bereits?“, fragte ich.
„Nicht viel“, überlegte er. „Steinmann hat über das Telefon nicht allzu viel verlauten lassen, aber offensichtlich handelt es sich bei unserem toten Drogendealer nicht um einen Einzelfall.“
‚Unser toter Drogendealer’, Bruno Bauer, war ein Mordfall, mit dem wir uns bereits seit über zwei Monaten herumschlugen. Der Fall war ein einziges Rätsel. Bis auf die Spuren der Polizisten und Ermittler am Tatort waren keine weiteren Fingerabdrücke oder verwertbare DNA Spuren aufzuspüren gewesen. Der einzige positive Aspekt an dem Fall war, dass er uns über die letzten Monate genügend beschäftigt hatte, um Bobby ein bisschen von Marie abzulenken.
„Wie kommt er darauf?“, fragte ich irritiert. „Wir haben doch keinerlei Hinweise auf den Täter, oder nicht?“
„Das nicht“, bestätigte Bobby ungerührt. „Doch heute haben sie eine weitere Leiche gefunden. Interessant daran: Der Mörder hat die gleiche Visitenkarte hinterlassen.“
„Oh“, entgegnete ich und verstummte. Keiner von uns beiden wollte das Wort ‚Serienmörder’ offen aussprechen, aber wir beide wussten, in welche Richtung dieser Fall zu kippen drohte.
„Wir sind da“, unterbrach Bobby meine Gedanken.
Vor uns lag eine ruhige Seitengasse, in der die eng aneinander stehenden Häuser gespenstisch durch die hektisch blinkenden Blaulichter der Einsatzfahrzeuge beleuchtet wurden. Einige Schaulustige hatten sich bereits an der Polizeiabsperrung eingefunden und versuchten ein paar neugierige Blicke auf die vielen Polizisten zu erhaschen. Aber die Kontrollpunkte waren klug gewählt und ließen keinerlei Schlüsse darauf zu, was in diesem ruhigen Stadtteil passiert sein mochte. Steinmann hatte das Gebiet weitläufig absperren und ein enormes Polizeiaufgebot auffahren lassen. Mir wurde etwas flau im Magen. Steinmann war ein sehr besonnener Mann. Er würde niemals mit einer so großen Aktion die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf einen Tatort lenken, es sei denn, er war an einer wirklich großen Sache dran.
Zu diesem Zeitpunkt sollte ich noch nicht wissen, wie Recht ich mit dieser Einschätzung haben sollte. Genauso wenig war mir bewusst, dass dieser Moment der erste Tag vom Ende meines behüteten und glücklichen Lebens sein sollte. Doch ich hatte bereits den ersten Schritt auf einem Weg getan, an dessen Ende meine Frau sterben sollte.
In meinem Leben hatte ich bereits viele Tatorte und damit einhergehend weitaus mehr Leichen gesehen, als einem einzelnen Menschen zugemutet werden sollte. Doch die Jahre im Polizeidienst hatten es mit sich gebracht, dass jede weitere Leiche mich etwas weniger aufwühlte, etwas weniger verfolgte, bis der Tod seinen Schrecken verloren hatte und auf erschreckende Art und Weise Normalität geworden war. Trotzdem wurde mir leicht übel, als ich den verwesenden Körper vor mir auf dem schmutzigen Teppich liegen sah.
Bruno Bauer war selbst zu Lebzeiten kein besonders hübscher Anblick gewesen, aber in seinem jetzigen Zustand trieb mir der strenge Geruch die Tränen in die Augen. Er starrte aus tiefen, eingefallenen Höhlen an die Decke, den Mund leicht geöffnet, als würde er lediglich schlafen. Seine weiße, wachsartige Haut fing bereits an, sich zu zersetzen. Einige Fliegenlarven krochen träge über die hügelige Kraterlandschaft seines verwesenden Körpers, dick gefressen, im fahlen Licht der Fenster fettig glänzend.
Neben ihm kniete bereits ein Mann, eingehüllt in einen der weißen Schutzanzüge, die zu Mord und Verbrechen gehörten wie das dumpfe Gefühl, die Grausamkeiten der Menschen kaum noch ertragen zu können. Ich erkannte die eingehüllte Gestalt erst auf den zweiten Blick: Gregor Großkopf. Er war der leitende Gerichtsmediziner im Gerichtsmedizinischen Institut in Düsseldorf, das in den meisten Mordfällen der vergangenen Jahre durch die Staatsanwaltschaft mit der Ermittlung der Todesart, des Todeszeitpunktes und der Todesursache betraut worden war. Insofern handelte es sich bei Großkopf um einen bekannten, aber nicht unbedingt gerne gesehenen Gast im trüben Grau meiner Alltagsarbeit. In seiner Nähe fühlte ich mich unwohl. Das war zum einen dem Umstand geschuldet, dass er eine merkwürdig unangemessene Unbekümmertheit zur Schau trug, obwohl sein Job der Tod war, zum anderen, weil wir uns bereits bei unserem ersten Kennenlernen auf dem falschen Fuß erwischt hatten. Die alleinige Schuld an diesem Fehlstart unserer beruflichen Beziehung war Großkopf anzulasten, ohne Zweifel. Ich hatte als noch junger Polizist gewagt, ihn als Pathologen zu bezeichnen, was in seinen Augen einer ungeheuerlichen Beleidigung gleichgekommen war. Pathologen, wie er mir mit spitzer Stimme erklärt hatte, führten Obduktionen bei natürlichen Todesursachen durch, während er sich im offiziellen Auftrag der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte der Aufklärung von Straftaten widmete.
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