Nur langsam nahm ich auch Einzelheiten meiner Umgebung wahr. Ich lag auf dem Boden. In unserem Wohnzimmer. Der weiche Teppich schmiegte sich sanft an meinen Rücken und kitzelte meinen Nacken.
Als hätte die sanfte Berührung ein Fach in den unzähligen Schubladen meines Verstandes geöffnet, stürzten die Bilder der letzten Nacht ohne Vorwarnung auf mich ein und raubten mir für eine kurze Zeit den Atem. Ich stöhnte auf, aber nicht wegen der körperlichen Schmerzen, die sich meines Körpers bemächtigt hatten und ihn ihrer Tyrannei unterwarfen, sondern wegen des psychischen Horrors der Erinnerungen, die mich zwangen, die erschreckenden Stunden der Nacht wieder vor meinem inneren Auge erleben zu müssen. Die Bilder waren zwar verschwommen, konnten aber trotzdem nicht verbergen, was ich am liebsten verdrängt hätte.
„Sandra!“, schrie ich schwach. Den Protest meines Körpers ignorierend, versuchte ich, mich aufzurichten.
„Bitte bleiben Sie liegen“, befahl einer der Männer und packte mich am Arm. „Wir wissen nicht, ob Sie Verletzungen davongetragen haben.“
Er versuchte, mich sanft in die weiche Umarmung des Teppichs zu drücken.
„Nein!“, protestierte ich, während langsam wieder Gefühl in meine Arme und Beine kroch. „Ich will zu meiner Frau! Wo ist meine Frau?“
Ich schüttelte die helfende Hand unwirsch ab. „Lassen Sie mich!“, schrie ich. Ich versuchte, mich gegen den gutmütigen Druck der beiden Sanitäter durchzusetzen, aber eine sanfte Berührung an meiner Schulter ließ mich innehalten. Ich blickte auf und starrte in das Gesicht meines Vorgesetzten. „Bitte, Erik, bleiben Sie liegen“, brummte Walter Steinmann beruhigend, doch in dieser Situation hätte mich lediglich eine hohe Dosis Valium dazu bewegen können, liegen zu bleiben.
Walter Steinmann war der Leitende Kriminaldirektor, der Chef der Kriminalpolizei im Düsseldorfer Raum. Er hatte die Leitung in unserem Fall übernommen.
Er sah aus, als hätte er in einem aussichtlosen Kampf eine vernichtende Niederlage erlitten. Den Mund hinter dem grauen Schnurrbart hielt er zu einem dünnen Strich zusammengepresst; seine Augen blickten aus tiefen, müden Höhlen traurig unter den buschigen Augenbrauen hervor. In all meinen Jahren bei der Kriminalpolizei war er mir nie in einer derart desaströsen Verfassung gegenübergetreten. Von der Härte und Durchsetzungskraft, die ansonsten seine steinerne Miene dominierten, war nichts mehr zu sehen. Dabei war seine stoische Ruhe und Gelassenheit, selbst bei schwierigen Einsätzen, so etwas wie sein Markenzeichen geworden, und hatte ihm den wenig schmeichelhaften Spitznamen ‚Arnold’ eingebracht, in Anlehnung an den gefühlskalten Roboter, den Arnold Schwarzenegger in dem Film Terminator spielte. Doch in diesem Moment verriet eine tiefe Sorgenfalte auf seiner Stirn, dass er dieses Mal nicht in der Lage gewesen war, eine professionelle Distanz zu bewahren. Er fühlte sich persönlich betroffen; das war in seinen Augen so offensichtlich abzulesen wie der Mörder in einem billigen Groschenroman.
Ich kannte bereits die erschreckende Antwort auf die Frage, die sich unaufhaltsam in meinen Verstand drängte; aber ich fragte trotzdem, auch auf die Gefahr hin, durch seine dunkle Stimme die Bilder meiner Erinnerungen bestätigt zu sehen.
„Wo ist Sandra?“
Walter Steinmann blieb mir eine Antwort schuldig. Trotzdem ließen seine nächsten Worte keinen Zweifel daran, was mit meiner Frau passiert war. „Er hat sie erwischt“, murmelte er mit einem leicht angedeuteten Kopfschütteln, das die ganze Tragödie meines Lebens in einer simplen Geste zusammenfasste.
Ich stolperte auf meine Beine. Dieses Mal hielt mich niemand mehr auf. Steinmann drückte die beiden Sanitäter mit seinem Arm sanft zurück und ließ mich gewähren.
Nur ein paar Meter neben mir hatte sich eine kleine Traube von Sanitätern und Polizisten versammelt, die langsam zurückwichen, als ich näher torkelte.
In ihrer Mitte lag Sandra, ihr Körper in einer unnatürlichen Pose verdreht, die schmerzlich die Qualen ihrer letzten Minuten veranschaulichte und ihre frühere Schönheit hinter der schrecklichen Maske des Todes verbarg.
Ich sank neben ihr auf die Knie, während die Tränen in Strömen meine Wangen hinabliefen. Ich fing an zu schreien und hörte erst auf, als mich starke Arme von der Leiche meiner Frau wegzogen.
Mit einem sonoren Sirren kämpften die Scheibenwischer gegen den fortdauernden Strom von Regen an. Bereits seit drei Tagen regnete es unablässig wie aus Kübeln, und inzwischen kroch die Feuchtigkeit durch alle Ritzen und Fugen in die Häuser und Herzen der Menschen. An den Straßenrändern strömte das Wasser in reißenden Bächen in die Kanalisation und erweckt unwillkürlich den Eindruck, Düsseldorf wäre nicht auf festem Grund, sondern wie Venedig auf einem ständig schwankenden Untergrund aus Wasser erbaut. Selbst in dem wohlig temperierten Innenraum der Limousine, mit einem stetigen Zustrom warmer Luft im Gesicht, drang die klamme Kälte von draußen bis tief unter meine Haut. Die Scheiben waren beschlagen, so dass außerhalb des Wagens kaum etwas zu erkennen war. Selbst die Klimaanlage kapitulierte vor der Aufgabe, der Luft ihre überschüssige Feuchtigkeit abzutrotzen.
„So ein Scheißwetter!“, fluchte Bobby neben mir und schmierte mit seinem Jackenärmel ein winziges Guckloch in die Windschutzscheibe. „Seit meinem letzten Urlaub am Meer habe ich nicht mehr so viel Wasser auf einmal gesehen!”
Ich kannte Robert Bukowski, Bobby, bereits seit Jahren, seit unserer gemeinsamen Zeit auf der Polizeischule. Er war seit inzwischen beinahe vierzehn Jahren mein Kollege bei der Kriminalpolizei, oder vielmehr noch: Er war mein Freund. Seitdem wir beide zum Kriminaloberkommissar befördert worden waren, war unsere Freundschaft sogar noch enger geworden. Rückblickend betrachtet, schmerzt sein Tod am meisten. Sandra zu verlieren, war eine Tragödie; sie war mein Leben, mein Ein und Alles. Und trotzdem, mit Roberts Tod verlor ich endgültig alles, was mir von meinem alten Leben noch geblieben war. Wäre ich in der Lage, die Zeit zurückzudrehen, würde ich ohne zu zögern zu jenem trüben Novembertag zurückspringen, um die verhängnisvolle Kette an Ereignissen zu unterbrechen und das Leben meiner Frau und meines Freundes retten. Aber leider saß ich ahnungslos im Auto neben Bobby und ahnte nicht im Geringsten, welche Grausamkeiten mein Schicksal für mich bereithalten sollte.
Ich erinnere mich an all die kleinen Details, als wäre es erst gestern passiert. Der Geruch im Wagen; es roch penetrant nach alten Zigaretten, obwohl keiner von uns beiden rauchte. Das beige Sakko, das Bobby bevorzugt trug, war von dem kurzen Weg bis zum Auto durchnässt und schimmerte in einem dunklen Braunton. Im Radio lief irgendein Song, eine Eintagsfliege, deren Urheber längst von einer schnelllebigen Popkultur aus dem selektiven Gedächtnis der Radiosender gestrichen worden war. Seit jenem Tag habe ich das Lied nie wieder bewusst im Radio gehört, doch die nichtssagende Melodie dudelt immer noch in meinem Kopf, wenn ich an diesen Moment zurückdenke.
Bobby starrte mit finsterem Blick mürrisch auf die Straße und versuchte angespannt, unter der Wasserlache vor ihm den Asphalt ausfindig zu machen.
„Wir sollten anfangen, die verdammte Arche Noah zu bauen, um unsere Ärsche in trockene Gefilde zu verfrachten“, fluchte er, die Hände fest um das Lenkrad gekrallt.
Er ignorierte die nächste rote Ampel und schlängelte den BMW an ein paar parkenden Autos vorbei.
Ich lachte. „Im Gegensatz zur Arche Noah hat dieses Fahrzeug aber Bremsen, Bobby!”
Bobby warf mir einen warnenden Blick zu. „Da bin ich mir nicht sicher“, murrte er. „Im Moment schwimmt das Auto eher, als dass es fährt.“
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