Eine Ahnung stieg in Lena auf, ihr dämmerte, woran die Sangomas ihre Nachfolger erkannten.
»Du hast vorhin noch ein Wort erwähnt. Injanka oder so ähnlich. Was treiben die?«
»Du meinst Inyanga ?«
Lena nickte.
»Wenn du Husten oder Magenschmerzen hast, also unerheblichere Wehwehchen, dann musst du einen Inyanga aufsuchen«, sagte Innocent aufgeräumt. Über das Thema schien er eher reden zu wollen, die Welt der Hexer und Dämonen war ihm nicht geheuer.
»Wie schaffen die Inyangas das?«, fragte Lena und bemühte sich, den Spott in ihrer Stimme zu unterdrücken, weil sie ähnlichen Hokuspokus vermutete.
»Sie gehen in mondhellen Nächten auf die Suche nach Kräutern, Wurzeln und Rinden. Die mixen und kochen sie zu einer Medizin zusammen.«
›Das macht Kaljas Vater als Homöopath ähnlich‹, dachte Lena versöhnt. Die Tätigkeit einer Inyanga erschien ihr nachvollziehbarer und sympathischer als die einer Sangoma .
»Die medizinische Fürsorge ist nur ein Teilaspekt«, zerstörte Innocent gleich ihre positive Einschätzung. »Sich um Ernten kümmern, einen Liebesbann über jemand legen, das Haus vor Blitzeinschlägen und Dieben schützen, sich um einen besseren Job kümmern gehört auch dazu. Du siehst, hier überschneiden sich die Aufgaben der Sangoma und Inyanga .«
»Wie lange dauert die Ausbildung?«
»Zwischen acht und zehn Jahre. Du musst nicht überrascht schauen, das ist ein angesehener und lebensnotwendiger Beruf, das braucht Zeit zur Ausbildung.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Klar, es gibt auch viele Betrüger, man muss schon aufpassen, wen man konsultiert. Die beste Ausbildung erfährt man im Tal der Schamanen , einem heiligen, geheimnisvollen Ort.«
»Wer hat deine Tochter als künftige Sangoma und Inyanga erkannt? Der Heiler aus deinem Dorf?«
»Nein«, sagte er. »Eine furchtbare Geschichte war das, ich mag gar nicht daran denken.« Er wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Als meine Kleine acht Jahre zählte, erkrankte sie schwer. Der Inyanga aus dem Dorf konnte ihr nicht mehr helfen und gab sie verloren. Man brachte einen weißen Arzt zu uns. Ohne viel Geld kümmerte er sich um uns Schwarze. Er warf einen Blick auf mein Kind, schüttelte bedauernd den Kopf, gab uns alle die Hand und ging weg.« Die Erinnerung daran schien Innocent mitzunehmen, seine Fröhlichkeit war von ihm abgefallen. »Ich machte einen letzten verzweifelten Versuch, ich holte Nomvolo, den größten männlichen Sangoma , der in unserem Volk lebt.« Er schluckte, bevor er weitersprach. »Als er kam, schickte er uns alle aus der Hütte. Stundenlang saßen wir davor und warteten. Endlich kam er heraus, an der Hand führte er meine Tochter. Kerngesund! Bei dem Anblick spaltete sich mein Herz, die eine Hälfte leuchtete vor Jubel, die andere versank in Schwärze vor Trauer.« Seine Stimme klang bewegt, die Erinnerung setzte ihm zu.
Lena glitt bei den Worten in ihrer Erinnerung zwei Jahre zurück: Der überdimensionale Skorpion hatte den todbringenden Stachel in ihre linke Hand versenkt. Das Gift begann zu wirken, das Gefühl von Taubheit und bitterer Kälte kroch in ihren Körper hinein, bis in die letzte Körperzelle. Ihr Herz blieb stehen. Auch in jener Zeit war jemand zu ihr gekommen, hatte sie geheilt wie das schwarze Mädchen.
Sie fasste nach Innocents Hand. »Dein Kind war geheilt, wieso war dein Herz gespalten?«, fragte sie vorsichtig.
»Nomvolo, der Herr des Regenbogens, ist bekannt dafür, dass er sich für Dienste königlich bezahlen ließ. An Gold und weißen Rindern war er nicht interessiert, mehr an Menschen. Als ich sah, wie kräftig er uThembanis dünnes Handgelenk umfasst hielt, wusste ich Bescheid.«
»Er hat doch nicht etwa dein Kind von dir gefordert!«, entsetzte sich Lena.
»Genau das, Lena. Als Lohn für seine Dienste nahm er meine Tochter mit sich ins Tal der Schamanen . Erst nach zehn Jahren durfte sie zu uns zurückkommen. Vor einem Jahr habe ich meine Tochter zum ersten Mal wiedergesehen. Sie war Sangoma und Inyanga geworden.« Seine Hände umklammerten das Lenkrad, schweigend mit zusammengebissenen Lippen raste er über die verkehrsarme Straße.
Lenas vager Verdacht verstärkte sich zur Gewissheit: Nomvolo wird zu einem todkranken Kind gerufen, er schickt alle vor die Hütte, nach einiger Zeit kommt er mit einem geheilten Kind heraus. Dieser Nomvolo musste ohne Zweifel ein herausragender Magier sein. Warum nur war er so interessiert an dem Mädchen gewesen? Natürlich, das lag auf der Hand, das Mädchen war eine Sternenstaubträgerin! Er hatte die magischen Möglichkeiten, die in dem Mädchen steckten, erkannt, sie mitgenommen und in den zehn Jahren zu einer ihm ergebenen Magierin ausgebildet. Doch zu welcher? Einer Schwarzen oder einer Weißen? Sie musste es herausbekommen, und zwar bevor ihr uThembani über den Weg lief.
Innocents Gesicht hatte sich entspannt, seine Hände umfassten das Lenkrad unverkrampft. »Meine Tochter kümmert sich um Arme, Schwache und Kranke«, fuhr er fort, »Dabei hätte sie lukrativere Chancen. Hohe Politiker aus der Hauptstadt Tshwane, sogar der König der Zulus will sie als Beraterin.«
»Was, ihr habt einen König?«, entfuhr es Lena überrascht. »Das Erste, was ich höre!«
»Wir Zulus haben Häuptlinge«, er klopfte sich selbstbewusst auf die Brust, »und wir haben einen König. Er heißt Goodwill Zwelethini und herrscht über acht Millionen Menschen.«
Lena war nicht an dem König interessiert, uThembanis Person war von grundsätzlicherer Bedeutung. »Du sagtest, etwas an mir würde dich an deine Tochter erinnern«, unterbrach sie Innocent, der zu einem Monolog über den Zulu-König ansetzen wollte. »Was genau ist es?«
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Na ja, die Hautfarbe nicht«, scherzte er. »Davon abgesehen? Figur, Körpergröße, Alter, alles wie bei meiner uThembani.« Er zog die Stirn in Falten. »Doch das ist es nicht. Ihr beide habt eine Winzigkeit gemeinsam ...« In dem schwarzen Gesicht rollten die weißen Augäpfel, Schweißtropfen perlten auf der Stirn, trotz aller Anstrengung, ihm fiel nichts ein. Stumm fuhren sie Kilometer auf Kilometer dahin. Straßenschilder wiesen auf Numbi , Phabeni und Paul Kruger Gate hin, den südwestlichen Eintrittspforten in den Nationalpark.
»Na, was ist es?«, drängte Lena. Sie mühte sich, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Augenfarbe, Frisur, Nase?« Sie griff an ihre Nase, die ihr als Teenager durch ihre Länge viel Kummer gemacht hatte und rieb ihre Finger die Nasenflügel entlang.
»Nein, nein«, wehrte er ab, »Mit dem Aussehen hat das nichts zu tun. Es ist vertrackter, liegt in eurem Inneren verborgen. Ich fühle, dass du eine Spur in dir trägst, die dich mit meiner Tochter verbindet.« Er wischte sich über die Stirn. »Lassen wir das«, beendete er das Thema. »Wenn mir die passenden Worte einfallen, wirst du es erfahren.«
›Oha‹, dachte Lena, ›ahnt Innocent, dass ich Sternenstaubträger bin? Nein, das ist unmöglich, er muss anderes im Sinn haben. Aber was? Hat es mit meiner entfernten Abstammung als Navaho zu tun? Trage ich aus genau dem Grund die magische Energie in mir? Sind Naturvölker hierfür empfänglicher?‹
3. Eine rätselhafte Botschaft
Durch die Gassen des griechischen Bergdorfs Zagora, das sich oben im Pilion an die Gebirgshänge anschmiegt, krochen dumpfige Nebelschwaden.
Kalja erwachte und fühlte, dass ihr Bettlaken von kaltem Schweiß nass war. ›Schon wieder, was ist das nur‹, dachte sie erschrocken und erhob sich. ›Irgendetwas brüte ich aus, möglicherweise eine Grippe, Vater muss mir Tabletten geben.‹ Sie zog das Laken ab, streifte das ebenfalls feuchte Nachthemd über ihren Kopf, packte das Bündel zusammen, lief nach unten ins Bad und stopfte alles in die Waschmaschine.
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