Derweil war Damis zusammen mit dem Buckligen in den Lastwagen geschlüpft. Aus einer in der Lkw-Plane verborgenen Tasche zog er ein Teppichmesser und eine Rolle mit Klebestreifen hervor. Mit dem Messer trennte er den Klebestreifen von Kiste TA-17-1 in der Mitte durch, klappte die beiden Pappdeckel zur Seite, hob von der drinnen befindlichen Holzkiste den Deckel ab und schlüpfte hinein. Sein Komplize verschloss sofort wieder die Kiste, klappte den Transportkarton zu, zog einen Klebestreifen ab, setzte ihn passgenau auf den zerschnittenen und legte den Rest der Rolle zurück in das Versteck. Der Kleine war zwar nicht der Intelligenteste, jedoch das wochenlange Training machte diesen Nachteil wett. Das Ganze hatte kaum eine halbe Minute gedauert.
Der Bucklige sprang von der Ladefläche und stellte sich zu den anderen, die dem Geschehen scheinbar unbeteiligt den Rücken zugewendet hatten. »Damis ist nicht auf der Höhe, Chef«, rief er leicht stotternd dem Beamten zu. »Er hat sich den Magen verdorben. Die trocknen Bohnen heute, den gesamten Morgen jammert er schon.«
»Okay, Stratos«, erwiderte der Aufseher gutmütig. Die beiden Kumpel hatten bei ihm ein Stein im Brett, versorgte Damis ihn ausreichend mit geschmuggelten Drogen und der Weiterverkauf an einsitzenden Junkies besserte seine kümmerlichen Beamtenbezüge ordentlich auf. ›Wieso hat den Fraß gegessen‹, wunderte er sich, ›Der hat genug Geld, sich einiges extra zu besorgen.‹ Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, gemäß Dienstplan musste er jetzt die Ladefläche kontrollieren. Missmutig schleppte er sich hinter den Lkw und schaute in die Ladeluke. Es wäre seine Pflicht gewesen, hochzuklettern und die Kiste zu untersuchen, die da einsam in der hintersten Ecke stand. Das war ihm mit seinem dicken Bauch zu beschwerlich. ›Was soll's, darum kümmern sich die Wachen am Tor‹, dachte er, ›die haben eh nichts zu tun.‹ Gnädig nickte er Pantelis zu, der verschloss die Ladeluken und machte, dass er mit seinem Wagen fortkam.
Am Tor wurde er von den beiden mies gelaunten Wächtern erwartet. ›Ich hätte denen mehr Schmiergeld zustecken müssen‹, dachte er missmutig, ›hoffentlich schikanieren sie mich jetzt nicht.‹
»Luke öffnen und Ladepapiere!«, befahl der eine.
Pantelis stöhnte. »Muss das sein, Leute? Seht, wie nass ich schon bin«, jammerte er. Aber es half nichts.
Während der eine sich genau notierte, wer der Empfänger der verbleibenden Kiste war, kletterte der andere auf die Ladefläche, kontrollierte misstrauisch die Klebestreifen der Verpackung und klopfte die Kiste ab. Endlich schien er zufrieden, Schlagbaum und Tor öffneten sich, Pantelis winkte den beiden zu und gab Gas.
Der Regen hatte aufgehört. Pantelis konnte – ohne von den schmierenden Scheibenwischern in der Sicht beeinträchtigt zu werden – über die holperige Straße brettern. Er erreichte den Parkplatz. ›Glück muss man haben‹, freute er sich, ›kein Mensch zu sehen‹. Er hielt neben dem weißen Ford-Kombi, lief nach hinten, öffnete die Ladeluke, kletterte empor, holte Messer und Klebeband aus dem Versteck, riss die Kiste auf und entriegelte den Deckel des innenliegenden Holzkastens.
Stöhnend und nach Luft schnappend kletterte Damis heraus. »Mann, Pantelis! Du hast mich schön durchgeschüttelt«, jammerte er, »Mir tun alle Knochen weh.«
Der machte eine wegwerfende Handbewegung. »Zack zack, die Bullen können jederzeit anrücken«, drängte er.
Mit dem Messer zerschnitten die Beiden den Karton der Verpackung, zerlegten den Holzkasten in seine Bestandteile und warfen alles, samt Klebeband und Teppichmesser in den Abfallcontainer des Parkplatzes. Sie zogen aus dem Ford die Zwillingskiste heraus und luden sie in den Lkw um.
Damis zog sich aus, schmiss die Häftlingsklamotten ebenfalls in den Container und zog die Kleidungsstücke an, die auf dem Beifahrersitz des Autos bereitgelegen hatten.
Unterdessen hatte Pantelis die schweren Plastiksäcke von der Rückseite des Containers hervorgezerrt und sie aufgeschnitten. »Igittigitt!«, rief er und verzog angeekelt das Gesicht, »Das Zeug stinkt barbarisch. Komm, hilf mir mal!«
Die verfaulten und verschimmelten Essensreste, die tagelang in den Plastiksäcken vor sich hingegammelt hatten, wurden in den Container gekippt. Damis ließ es sich nicht nehmen, mit einem Stock das glibberige Zeug derart zu verteilen, dass von der Kiste nichts mehr zu sehen war.
»Mach zu,«, trieb Pantelis ihn an, »es reicht mit dem Verteilen!« Er griff in seine Jacke. »Hier habe ich was für dich.« Er warf Damis irgendetwas Pelzartiges zu.
Der fing das Ding auf und betrachtete es angeekelt. »Igitt, was ist das? Eine Perücke?«
»Setze sie auf und verschwinde endlich!« Pantelis grinste. »Für Eitelkeit ist jetzt kein Platz. Mit deinem rasierten Schädel fällst du zu sehr auf.«
Damis, für den ehemals nur das Beste gutgenug gewesen war, fluchte, zog die Perücke über und stieg in den Wagen. Er musterte sich im Rückspiegel: Der dreijährige Gefängnisaufenthalt hatte Spuren hinterlassen, Bartstoppeln, eine ungesunde graue Gesichtsfarbe, scharfe Falten um die Mundwinkel herum. Er war entsetzt. Dabei war es ihm noch verhältnismäßig anständig ergangen, seine Freunde draußen hatten ihn nicht vergessen und ihm Geld und Drogen zugespielt. Damit konnte er sich eine Matratze und besseres Essen leisten. Wer so ein Glück nicht hatte, dem blieb nur ein nackter Fußboden und elender Fraß aus trockenen Bohnen. Er dachte an die Erniedrigungen zurück, denen er ständig ausgesetzt gewesen war und spukte angewidert aus dem Fenster. ›Nein, ins Gefängnis lass ich mich nicht mehr stecken, da gebe ich mir gleich die Kugel.‹ »Danke, Pantelis«, rief er seinem Kumpel zu, drehte den Zündschlüssel und fuhr los.
Zehn Minuten später tauchte im Rückspiegel von Pantelis' Lastwagen das Blaulicht der Polizei auf. Es war für die Polizisten sehr enttäuschend, als sie die Verpackung der Kiste TA-17-1 öffneten und anstatt des entflohenen Mörders nur einen Tisch, bestellt von der Touristenpolizei in Saloniki, Platia Haghias Sophias 10, vorfanden.
Ein Mann mit einem schwarzen Lockenkopf drückte gegen die Tür des Restaurants Mantra Fani in Volos. Sie war verschlossen. Ärgerlich blickte er auf die spottbillige Armbanduhr, die er heute Morgen einem afrikanischen Straßenhändler abgekauft hatte. ›Mist, das Restaurant öffnet erst in einer Viertelstunde.‹ Er ging um das Gebäude herum und klopfte an die Fensterscheibe der Küche.
Das Fenster wurde einen Spalt geöffnet. »Wir öffnen in zwanzig Minuten!«, rief der Koch abweisend und wollte das Fenster schließen.
»Stopp, warte Minas! Ich bin es, Damis«, erwiderte der Mann und schaute sich ängstlich um. »Erkennst du mich nicht?«
Das Fenster wurde zugezogen und gleich darauf öffnete sich die Tür zum Lieferanten-Eingang. Ein Arm schob sich heraus, packte Damis und zog ihn ins Innere. »Rein mit dir und keinen Mucks«, sagte der Koch. »Wenn dich jemand sieht, komme ich in Teufels Küche!« Entsetzt blickte Minas in die verhärmten Gesichtszüge seines Gegenübers. »Mensch, Damis, ich dachte, du sitzt, und zwar lebenslänglich!« Er zog die Rollos der Fenster herunter. »Hast es geschafft, zu türmen«, stellte er mit geringer Begeisterung in der Stimme fest.
»Entschuldige, dass ich nicht um Erlaubnis gebeten habe.« Damis war ungehalten, er spürte, dass er nicht willkommen war.
»Wenn wir öffnen, musst du verschwunden sein«, drängte Minas. »Ein Glück, dass der Chef heute nicht da ist!«
»Okey-dokey«, erwiderte Damis wütend. »Vergiss nicht, du stehst in meiner Schuld.«
»Reg dich nicht auf und verzieh dich ins Lokal. Ich muss in der Küche ein Menü vorbereiten«, sagte Minas mit einer Stimme, die versöhnlich klingen sollte. »Willst du was trinken?«, bot er an. »Warmes oder Kaltes?«
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