„Nun nehmt, er beißt euch schon nicht!“, sagt die Hexe. „Glaube ich jedenfalls.“ Sicherheitshalber stupst sie den Kuchen an. Als er sich nicht bewegt, nickt sie zufrieden.
Zögernd nimmt sich Primo ein Stück und beißt davon ab. Der Kuchen schmeckt fantastisch! Viel besser als der Heilige Kuchen, den Birta immer in der Kirche verteilt.
„Der ... ist ... wirklich ... lecker!“, sagt er.
„Man spricht nicht mit vollem Mund!“, ermahnt ihn Golina.
Primo muss lachen.
„Was ist daran witzig?“, fragt seine Freundin.
„Nichts“, erwidert Primo und kichert. „Du siehst nur lustig aus. Du hast ganz viele kleine Pünktchen im Gesicht.“ Er sieht sich um. „Die sind überall, die Pünktchen. Die ganze Welt besteht aus Pünktchen! Ist das komisch!“ Er kann sich kaum halten vor Lachen.
„Primo?“, fragt Willert. „Geht’s dir gut?“
„Mir geht’s besser als je zuvor! Komisch, jetzt sind die Punkte weg. Dafür ist alles irgendwie verschwommen.“
„Ruuna, was hast du in den Kuchen getan?“, fragt Willert.
„Nur, was im Rezept stand“, antwortet die Hexe.
„Oh, das sieht aber seltsam aus!“, ruft Primo und hält einen Arm vor sein Gesicht. „Auf einmal haben die Dinge Umrisse aus feinen Linien! Huch ... jetzt ist alles plötzlich nur noch schwarzweiß! Kann ich noch ein Stück von dem Kuchen haben?“
„Nein!“, sagt Willert, nimmt den Kuchen vom Tisch und trägt ihn aus dem Haus.
„Ist das alles schön bunt hier!“, meint Primo.
„Was ist bloß mit ihm los?“, fragt Golina. Ihre Stimme klingt besorgt.
Primo versteht nicht warum – er hat sich noch nie besser gefühlt! Als Willert wieder ins Haus kommt, bekommt er einen Lachkrampf.
„Wuhahaha, du stehst ja auf dem Kopf!“, ruft er und hält sich den Bauch vor Lachen. „Und der Fußboden ist an der Decke!“
„Was war das für ein Rezept, Ruuna?“, fragt Willert. Er scheint über irgendetwas sehr zornig zu sein.
„Das ist supergeheim, hab ich doch schon gesagt!“, erwidert die Hexe beleidigt.
„Wieso ist denn der Fußboden auf einmal blau?“, fragt Primo.
„Ich will sofort wissen, was du in den Kuchen getan hast!“, ruft Willert. „Und komm mir bloß nicht wieder damit, dass das Rezept supergeheim sei!“
„Schrei mich nicht so an!“, ruft Ruuna. „Da sind bloß ganz normale Zutaten drin: Getreide, Eier, Zucker, Milch, Pilze ...“
Primo betrachtet die beiden fasziniert. Alles sieht auf einmal sehr seltsam aus: Der Raum ist schwarz, als sei es mitten in der Nacht. Doch er kann die Umrisse der anderen als leuchtende bunte Linien sehen.
„Pilze? Was für Pilze?“, will Willert wissen.
„Na ja, Pilze eben. Die hab ich im Wald gesammelt.“
„Du bist wirklich unmöglich, Ruuna! Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Pilze in den Kuchen tun!“
„Aber es stand so im Rezept!“
„Ach ja? Dann zeig mir mal dieses Rezept!“
„Kann ich nicht. Es ist supergeheim.“
„Seid bitte nicht so laut!“, ruft Primo dazwischen. „Ich bekomme von eurem Gezanke Kopfschmerzen!“
Willert beugt sich besorgt über ihn. „Was siehst du jetzt?“, fragt er.
„Dich“, antwortet Primo.
„Und wie sehe ich aus?“
„Seltsam. Gerade warst du noch ganz blass, dann auf einmal grün und irgendwie grob. Jetzt kann ich dich kaum erkennen, alles ist irgendwie so unscharf.“
„Ruuna, tu irgendwas, damit das aufhört!“, sagt Willert.
„Nein, das soll nicht aufhören!“, widerspricht Primo. „Ich hab noch nie so viel Spaß gehabt! Guck mal, jetzt verändern sich plötzlich dauernd alle Farben. Ich hab gar nicht gewusst, dass die Welt so toll aussehen kann!“
„Siehst du? So schlimm ist es gar nicht!“, meint Ruuna. „Immer musst du an allem, was ich mache, rummeckern!“
Willert ignoriert sie. „Primo, sieh mich an! Du hast Halluzinationen! Versuch, dich auf mich zu konzentrieren!“
„Welchen von euch Fünfen soll ich denn jetzt anschauen?“, fragt Primo verwirrt. „Oh, ich glaube, mir wird schlecht ...“
Weiter kommt er nicht. Er kippt von der Bank, und tiefe Dunkelheit senkt sich über ihn wie eine weiche Decke.
2. Heiliges Brot
Jemand drischt mit dem Schmiedehammer seines Vaters auf Primos Kopf herum. Jedenfalls fühlt es sich so an. Er versucht, die Augen zu öffnen, schließt sie jedoch rasch wieder, weil das Licht viel zu grell ist.
„Oh!“, stöhnt er. „Oh, mein Kopf!“
„Primo!“, ruft Golina. Sie klingt besorgt und erleichtert zugleich. „Wie geht es dir?“
„Nicht so gut.“ Sein Mund fühlt sich trocken an, und er kann kaum sprechen.
„Hier, trink das!“, sagt sein Vater. Wieso ist er plötzlich in Willerts Hütte?
Primo öffnet vorsichtig ein Auge. Als er sich an das grelle Licht gewöhnt hat, erkennt er, dass er nicht mehr in der Hütte im Wald ist, sondern in seinem Bett zuhause. Porgo, Golina, Kolle und Margi sind bei ihm und blicken sorgenvoll auf ihn herab. Sein Vater hält ihm eine Glasflasche mit einer roten Flüssigkeit hin.
„Was ... was ist das? Hat Ruuna das etwa gebraut?“, fragt Primo misstrauisch.
„Nein. Das ist ein Heiltrank. Ich habe ihn von dem Fremden eingetauscht.“
„Der Fremde ist zurück?“ Primo versucht, sich aufzusetzen, wobei das Pochen in seinem Schädel intensiver wird.
„Trink jetzt erst mal!“, sagt sein Vater.
Primo gehorcht. Die Flüssigkeit schmeckt nicht besonders gut, aber bald geht es ihm besser.
„Wie bin ich hierhergekommen?“, fragt er.
„Kolle hat dich getragen“, erklärt Margi. „Wir dachten, es ist besser, wenn wir dich nach Hause bringen. Ruuna wollte dir einen Trank brauen, der dich wieder gesund macht, aber Willert hat es nicht erlaubt. Die beiden haben sich ziemlich gestritten deswegen.“
„Ich hab mir solche Sorgen gemacht!“, sagt Golina.
Primo lächelt. Es ist irgendwie schön, dass sie seinetwegen besorgt war. „Vielleicht esse ich in Zukunft lieber keinen Kuchen mehr, den Ruuna gebacken hat“, meint er. „Jedenfalls nicht, wenn sie wieder ihr supergeheimes Spezialrezept anwendet. Obwohl, lecker war er schon.“
„Die blöde Hexe hätte dich beinahe umgebracht!“, schimpft Golina.
„Sie ist nicht blöd“, erwidert Primo. „Nur ein bisschen schusselig. Ohne Ruunas Hilfe wäre Kolle ein Nachtwandler geworden.“
„Primo hat recht, Ruuna meint es nicht böse“, stimmt Margi zu. „Aber wir sollten in Zukunft wirklich vorsichtig sein, wenn sie uns etwas anbietet.“
„Meinst du, du fühlst dich wohl genug, um mit in die Kirche zu kommen?“, fragt Porgo.
„In die Kirche? Aber der Gottesdienst ist doch erst morgen!“
„Du warst einen ganzen Tag lang bewusstlos“, erwidert sein Vater. „Vielleicht solltest du dich lieber noch etwas schonen.“
„Nein, ist schon okay. Mir geht es gut. Einen ganzen Tag lang? Wow! Das war aber wirklich ein seltsamer Kuchen!“
Als er aufsteht, schwankt der Boden unter seinen Füßen, und er muss sich bei Golina abstützen. Arm in Arm gehen sie zur Kirche.
Wie üblich schwadroniert Magolus, der Priester, über Notchs Güte und Gnade und darüber, wie wenig die Dorfbewohner diese verdienen, weil sie dauernd seine Regeln missachten. Als er mit seiner Predigt fertig ist, verteilt seine Gehilfin Birta Stücke vom Heiligen Kuchen. Bei dessen Anblick wird Primo übel, und er bringt es nicht fertig, etwas davon zu essen. Birta wirft ihm einen finsteren Blick zu, als sei sein Platz im Nether schon reserviert, weil er es gewagt hat, etwas abzulehnen, das sie ihm anbietet. Doch sie sagt nichts und reicht den Kuchen weiter zu Margi. Die zögert kurz, nimmt dann aber doch ein Stück und isst es. Danach ist Kolle an der Reihe.
„So gehet denn hin in Frieden und befolgt meine ... äh, Notchs Gebote“, sagt der Priester zum Schluss. Die kleine Gemeinde strömt ins Freie. Wie üblich bleiben die meisten Dorfbewohner auf dem Platz vor der Kirche stehen, um noch ein wenig zu plaudern.
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