„Hier entlang“, sagte Narvidur und zog Nils am Ärmel, als dieser weiter in den nächsten Flur wollte. Narvidur war anderer Absicht.
„Da ist doch nichts“, wunderte sich Nils, als sie schließlich vor einer glatten Wand standen. Er begann sich allmählich von dem Schrecken seines ersten Kampfes zu erholen.
„Warte es ab“, erwiderte Narvidur nur.
Den ganzen Raum umlief in Kopfhöhe ein mit allerlei Mustern verzierter Sims. Eines davon stellte eine Nachtigall auf dem Zweig einer Tanne dar. Der Rûngori berührte den Vogel an seinem Schnabel und gleich darauf entstand vor ihnen eine Öffnung in der Wand, etwa einen halben Meter über dem Fußboden, und gerade groß genug, um einen Erwachsenen hindurchzulassen.
„Schnell! Hinein!“, forderte Narvidur den verdutzten Nils auf.
Der überlegte nicht lange. Narvidur folgte ihm und die Geheimtür schloss sich hinter ihnen wieder. Sie waren von einer undurchdringlichen Dunkelheit umgeben, nur die Augen Narvidurs leuchteten.
„Uff“, sagte er erleichtert und geradezu menschlich und lehnte sich an die Wand. Nils hörte ihn atmen. „Ich glaube, ich werde zu alt für solche Abenteuer.“
„Es ist nicht dein erstes, nehme ich an“, sagte Nils. „Und auch nicht dein erstes in dieser Burg, oder?“
Narvidur lachte kurz auf.
„Nein. Nicht mein erstes in dieser Burg und es ist nicht einmal mein aufregendstes überhaupt. Trotzdem bin ich froh, dass wir vorerst in Sicherheit sind.“
Nils hörte, wie Narvidur in seiner Kleidung wühlte und schließlich ein erleichtertes „Endlich“ von sich gab. Dann flammte ein kleines Licht auf und der Rûngori entzündete die erste Fackel. Er kam ihr versehentlich ein wenig zu nah und plötzlich züngelte eine kleine, bläuliche Flamme seinen Bart hinauf.
„Vorsicht! Dein Bart brennt!“, warnte ihn Nils.
„Oh, Scheiße!“, schimpfte Narvidur und strich die Flammen hastig mit einer Hand aus. „Es ist doch ziemlich eng hier.“
Nils musste trotz ihrer angespannten Lage lächeln und meinte:
„Du kennst dich ja wirklich gut in meiner Sprache aus.“
Was der Rûngori zur Antwort grummelte, konnte Nils nicht verstehen, aber er nahm die Fackel entgegen, die Narvidur ihm reichte.
„Hier, aber sei vorsichtig“, sagte er.
„Ich habe keinen Bart.“
„Aha, es scheint dir wieder besser zu gehen. Sehr schön.“
Nils glaubte, aus Narvidurs Stimme herauszuhören, dass er anscheinend ein wenig gekränkt war. Vermutlich hatte er das Feuerfangen seines Bartes als Demütigung empfunden.
Während Narvidur die zweite Fackel entzündete, hatte Nils das erste Mal die Ruhe, ihn sich genauer anzusehen. Er stellte fest, dass der Rûngori fast genau den Erwartungen entsprach, die er bei ihrer ersten Begegnung in der Dunkelheit ihres Verlieses gehegt hatte. Narvidur trug zwar kurzes Haar, aber sein Bart – jetzt ein wenig angesengt – war tatsächlich ziemlich lang. Sein Gesicht war hager und faltig und die graue Färbung machte es älter als er wahrscheinlich war. Aber viel mehr war in der Enge des Geheimganges von ihm auch jetzt noch nicht zu erkennen.
Der Gang war tatsächlich sehr schmal und sie mussten fast auf ihren Knien rutschen. Dabei hatten beide ihre Schwierigkeiten. Narvidur war zwar hager, aber sehr groß und Nils, der einen Kopf kleiner als der Rûngori war, konnte nicht als unterernährt bezeichnet werden. Es dauerte auch nicht lange, bis er anfing, vernehmlich zu schnaufen.
Der Tunnel zog sich endlos hin. Er vollführte zahllose Biegungen, stieß aber nie auf andere Gänge und Nils konnte auch lange Zeit keine weiteren Türen entdecken. Trotzdem war er sicher, dass er mehrere Räume miteinander verband und nicht nur in einem Geschoss, denn zweimal mussten sie auf Leitern in die Tiefe steigen und dreimal aufwärts. Daraus schloss Nils, dass sie sich zum Schluss in der Etage über jener befanden, in der sie sich in diesen Gang geflüchtet hatten. Narvidur hielt plötzlich an.
„Hier ist es“, meinte er und tastete die Wand ab.
Nils konnte den flachen Rahmen erkennen, der die Tür innerhalb des Ganges markierte. Beide atmeten sie heftig, denn das nicht enden wollende Kriechen war sehr anstrengend gewesen. Es war erstaunlich warm und die Fackeln verbrauchten nicht nur Luft, sondern füllten den Gang auch mit ihrem Rauch. Nils war froh, dass er keine Platzangst kannte.
Narvidur legte sein linkes Ohr an die Steinplatte, lauschte und nickte.
„Gut, er scheint leer zu sein“, murmelte er.
Die Tür schwenkte wie die andere nach innen. Wie der Rûngori es fertigbrachte, sie zu öffnen, konnte Nils nicht sehen, da er hinter ihm wartete. Erstaunlich flink entschwand Narvidur aus dem Gang in den Raum dahinter, und Nils zögerte nicht, ihm – weniger flink – zu folgen. Narvidur hatte schon wieder sein Schwert in der Hand, als Nils sich aufrichtete.
Es war ein sehr nobel ausgestattetes Zimmer, in dem sie herauskamen. Es lag genau auf einer Ecke der Burg und besaß in zwei nebeneinanderliegenden Wänden je drei Fenster, die verglichen mit den anderen Räumen, die Nils kennengelernt hatte, recht viel Licht herein ließen.
„Wo sind wir hier?“, fragte Nils.
„Im Lieblingszimmer des Fürsten Dyrgorn.“
„Was soll das denn für ein Zimmer sein?“
„Ein würdiges Zimmer, um zu sterben“, meinte Narvidur fast gleichmütig.
Er war um einen schweren Schreibtisch herumgegangen und hatte den toten Fürsten auf dem Boden gefunden.
„Dann ist es wahr, was du gesagt hast. Sie kamen, um den Fürsten zu töten?“
Mittlerweile hatte Nils so viele Tote in der Burg gesehen, dass ihn der Anblick der Leiche des Fürsten nicht mehr erschrecken konnte. Und sein Mitleid hielt sich aus verständlichen Gründen in Grenzen.
„Ja, auch, dieses Mal.“
„Dann geht es nicht jedes Mal um ihren Kopf.“
„Natürlich nicht, so viele Anwärter auf das Fürstenamt gibt es auch nicht. Dieses Mal gab es besondere Gründe.“
„Welche -.“
„Das ist jetzt gleichgültig“, schnitt Narvidur Nils das Wort ab. Für längere Gespräche hatten sie wirklich keine Zeit. „Aber sobald sie ihren neuen Fürsten gewählt haben, werden die Steppenkrieger Gulhättan angreifen.“
„Gulhättan?“
„Die Hauptstadt der Bergkrieger“, erklärte Narvidur. „Sie liegt jenseits des Reservates in den Schneefuchsbergen.“
„Genau, das wollte ich dich schon gestern fragen, kam aber nicht dazu“, meinte Nils. „Was hat es mit dem Reservat auf sich?“
„Später, das ist eine lange Geschichte. Jetzt geh zur Tür und warne mich, wenn jemand kommt.“
Nils tat, was Narvidur verlangte. Die Tür stand noch einen Spalt breit offen. Nils blickte hinaus in den Flur. Er war leer. Dort lagen noch nicht einmal weitere Tote herum. Möglichst leise ließ er sie ins Schloss fallen und schob den Riegel vor. Jedenfalls konnte jetzt niemand mehr unbemerkt versuchen, in das Zimmer einzudringen.
Nils warf einen Blick aus dem nächsten Fenster. Zog sich aber gleich wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. Nein, es war zu hoch. Für einen kurzen Augenblick hatte er gehofft, dass sie durch das Fenster aus der Burg verschwinden konnten, aber sie befanden sich wenigstens im dritten Stockwerk. Draußen wimmelte es von Kriegern. So weit er sehen konnte, wurde nicht mehr gekämpft, und wenn Narvidur Recht hatte, dann mussten es Bergkrieger sein. Nils atmete auf. Dann konnte ihnen nichts mehr passieren. Er hielt Narvidur immer noch für einen Angehörigen dieses Stammes, obwohl er nicht begriff, warum Narvidur sich nicht nur von ihnen nicht befreien lassen wollte, sondern es anscheinend auch vermied, ihnen zu begegnen.
„Was suchst du hier eigentlich?“, wollte Nils wissen.
Narvidur hatte sein Schwert auf den Schreibtisch gelegt und damit begonnen, Schubladen und Regale zu durchsuchen. Dabei arbeitete er zwar schnell, aber auch auffallend vorsichtig, als fürchtete er, etwas kaputt zu machen. Er riss keine Schublade heraus und verstreute ihren Inhalt auf dem Fußboden. Narvidur war so vertieft in seine Arbeit, dass er Nils´ Frage überhörte. Nils hoffte, dass der Rûngori bald finden würde, was er suchte, denn vielleicht kamen doch noch einmal Steppenkrieger, oder auch Bergkrieger, zu ihnen herauf. Nils schätzte die Gefahr, Letzteren über den Weg zu laufen, sogar als größer ein, denn soweit er sich erinnerte, war es auch bei den Menschen üblich, getötete Herrscher als Zeichen des Sieges öffentlich darzustellen. Je länger sie in diesem Zimmer blieben, desto mehr wuchs diese Gefahr. Vielleicht, darauf ließ Narvidurs Verhalten schließen, überschätzte Nils ja auch die Freundlichkeit der Bergkrieger. Außerdem war ihm die Burg unheimlich.
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