Wir sprachen darauf über welthistorische Gegenstände in bezug auf die Poesie, und zwar inwiefern die Geschichte des einen Volkes für den Dichter günstiger sein könne als die eines andern.
»Der Poet«, sagte Goethe, »soll das Besondere ergreifen, und er wird, wenn dieses nur etwas Gesundes ist, darin ein Allgemeines darstellen. Die englische Geschichte ist vortrefflich zu poetischer Darstellung, weil sie etwas Tüchtiges, Gesundes und daher Allgemeines ist, das sich wiederholt. Die französische Geschichte dagegen ist nicht für die Poesie, denn sie stellt eine Lebensepoche dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur dieses Volkes, insofern sie auf jener Epoche gegründet ist, steht daher als ein Besonderes da, das mit der Zeit veralten wird.
Die jetzige Epoche der französischen Literatur«, sagte Goethe später, »ist gar nicht zu beurteilen. Das eindringende Deutsche bringt darin eine große Gärung hervor, und erst nach zwanzig Jahren wird man sehen, was dies für ein Resultat gibt.«
Wir sprachen darauf über Ästhetiker, welche das Wesen der Poesie und des Dichters durch abstrakte Definitionen auszudrücken sich abmühen, ohne jedoch zu einem klaren Resultat zu kommen.
»Was ist da viel zu definieren!« sagte Goethe. »Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Poeten.«
Mittwoch, den 15. [12.] Oktober 1825
Ich fand Goethe diesen Abend in besonders hoher Stimmung und hatte die Freude, aus seinem Munde abermals manches Bedeutende zu hören. Wir sprachen über den Zustand der neuesten Literatur, wo denn Goethe sich folgendermaßen äußerte:
»Mangel an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen«, sagte er, »ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.
Besonders in der Kritik zeigt dieser Mangel sich zum Nachteile der Welt, indem er entweder Falsches für Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches Wahres uns um etwas Großes bringt, das uns besser wäre.
Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lucretia, eines Mucius Scävola, und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! Und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.
So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Faktum des dreizehnten Jahrhunderts, wo Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Papste zu tun hatte und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen offen stand. Asiatische Horden kamen auch wirklich herein und waren schon bis Schlesien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg geschlagen. Diese Tapfern lebten daher bis jetzt immer in mir als große Retter der deutschen Nation. Nun aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Helden sich ganz unnütz aufgeopfert hätten, indem das asiatische Heer bereits zurückgerufen gewesen und von selbst zurückgegangen sein würde. Dadurch ist nun ein großes vaterländisches Faktum gelähmt und zernichtet, und es wird einem ganz abscheulich zumute.«
Nach diesen Äußerungen über historische Kritiker sprach Goethe über Forscher und Literatoren anderer Art.
»Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu tun ist, nie so kennen gelernt,« sagte er, »wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah ich, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.
Und in der schönen Literatur ist es nicht besser. Auch dort sind große Zwecke und echter Sinn für das Wahre und Tüchtige und dessen Verbreitung sehr seltene Erscheinungen. Einer hegt und trägt den andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große ist ihnen widerwärtig, und sie möchten es gerne aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten. So ist die Masse, und einzelne Hervorragende sind nicht viel besser.
Böttiger hätte bei seinem großen Talent, bei seiner weltumfassenden Gelehrsamkeit der Nation viel sein können. Aber so hat seine Charakterlosigkeit die Nation um außerordentliche Wirkungen und ihn selbst um die Achtung der Nation gebracht.
Ein Mann wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!
Viele sind geistreich genug und voller Kenntnisse, allein sie sind zugleich voller Eitelkeit, und um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts heilig.
Die Frau von Genlis hat daher vollkommen recht, wenn sie sich gegen die Freiheiten und Frechheiten von Voltaire auflegte. Denn im Grunde, so geistreich alles sein mag, ist der Welt doch nichts damit gedient; es läßt sich nichts darauf gründen. Ja es kann sogar von der größten Schädlichkeit sein, indem es die Menschen verwirrt und ihnen den nötigen Halt nimmt.
Und dann! Was wissen wir denn, und wie weit reichen wir denn mit all unserm Witze!
Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann an der Grenze des Begreiflichen zu halten.
Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkt ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit Gottes getan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich tun werde, bin ich gezwungen zu handeln, wie sie es weiß.
Dieses führe ich nur an als ein Zeichen, wie wenig wir wissen, und daß an göttlichen Geheimnissen nicht gut zu rühren ist.
Auch sollen wir höhere Maximen nur aussprechen, insofern sie der Welt zugute kommen; andere sollen wir bei uns behalten, aber sie mögen und werden auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz breiten.«
Sonntag, den 25. Dezember 1825
Ich ging diesen Abend um sechs Uhr zu Goethe, den ich alleine fand und mit dem ich einige schöne Stunden verlebte.
»Mein Gemüt«, sagte er, »war diese Zeit her durch vieles belästigst; es war mir von allen Seiten her so viel Gutes geschehen, daß ich vor lauter Danksagungen nicht zum eigentlichen Leben kommen konnte. Die Privilegien wegen des Verlags meiner Werke gingen nach und nach von den Höfen ein, und weil die Verhältnisse bei jedem anders waren, so verlangte auch jeder Fall eine eigene Erwiderung. Nun kamen die Anträge unzähliger Buchhändler, die auch bedacht, behandelt und beantwortet sein wollten. Dann, mein Jubiläum brachte mir so tausendfältiges Gute, daß ich mit den Danksagungsbriefen noch jetzt nicht fertig bin. Man will doch nicht hohl und allgemein sein, sondern jedem doch gerne etwas Schickliches und Gehöriges sagen. Jetzt aber werde ich nach und nach frei, und ich fühle mich wieder zu Unterhaltungen aufgelegt.
Ich habe in diesen Tagen eine Bemerkung gemacht, die ich Ihnen doch mitteilen will.
Alles, was wir tun, hat eine Folge. Aber das Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas Günstiges, und das Verkehrte nicht immer etwas Ungünstiges hervor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegenteil.
Ich machte vor einiger Zeit, eben bei jenen Unterhandlungen mit Buchhändlern, einen Fehler, und es tat mir leid, daß ich ihn gemacht hatte. Jetzt aber haben sich die Umstände so geändert, daß ich einen großen Fehler begangen haben würde, wenn ich jenen nicht gemacht hätte. Dergleichen wiederholt sich im Leben häufig, und Weltmenschen, welche dieses wissen, sieht man daher mit einer großen Frechheit und Dreistigkeit zu Werke gehen.«
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