Das Gespräch lenkte sich auf die falschen Tendenzen im allgemeinen, und Goethe fuhr fort:
»So war meine praktische Tendenz zur bildenden Kunst eigentlich eine falsche, denn ich hatte keine Naturanlage dazu und konnte sich also dergleichen nicht aus mir entwickeln. Eine gewisse Zärtlichkeit gegen die landschaftlichen Umgebungen war mir eigen und daher meine ersten Anfänge eigentlich hoffnungsvoll. Die Reise nach Italien zerstörte dieses praktische Behagen; eine weite Aussicht trat an die Stelle, aber die liebevolle Fähigkeit ging verloren, und da sich ein künstlerisches Talent weder technisch noch ästhetisch entwickeln konnte, so zerfloß mein Bestreben zu nichts.
Man sagt mit Recht,« fuhr Goethe fort, »daß die gemeinsame Ausbildung menschlicher Kräfte zu wünschen und auch das Vorzüglichste sei. Der Mensch aber ist dazu nicht geboren, jeder muß sich eigentlich als ein besonderes Wesen bilden, aber den Begriff zu erlangen suchen, was alle zusammen sind.«
Ich dachte hiebei an den ›Wilhelm Meister‹, wo gleichfalls ausgesprochen ist, daß nur alle Menschen zusammengenommen die Menschheit ausmachen und wir nur insofern zu achten sind, als wir zu schätzen wissen.
So auch dachte ich an die ›Wanderjahre‹, wo Montan immer nur zu einem Handwerk rät und dabei ausspricht, daß jetzt die Zeit der Einseitigkeiten sei und man den glücklich zu preisen habe, der dieses begreife und für sich und andere in solchem Sinne wirke.
Nun aber fragt es sich, was jemand für ein Handwerk habe, damit er die Grenzen nicht überschreite, aber auch nicht zu wenig tue.
Wessen Sache es sein wird, viele Fächer zu übersehen, zu beurteilen, zu leiten, der soll auch eine möglichste Einsicht in viele Fächer zu erlangen suchen. So kann ein Fürst, ein künftiger Staatsmann sich nicht vielseitig genug ausbilden, denn die Vielseitigkeit gehört zu seinem Handwerk.
Gleicherweise soll der Poet nach mannigfaltiger Kenntnis streben; denn die ganze Welt ist sein Stoff, den er zu handhaben und auszusprechen verstehen muß.
Aber der Dichter soll kein Maler sein wollen, sondern sich begnügen, die Welt durch das Wort wiederzugeben; so wie er dem Schauspieler überläßt, sie durch persönliche Darstellung uns vor die Augen zu bringen.
Denn Einsicht und Lebenstätigkeit sollen wohl unterschieden werden, und man soll bedenken, daß jede Kunst, sobald es auf die Ausübung ankommt, etwas sehr Schwieriges und Großes ist, worin es zur Meisterschaft zu bringen, ein eigenes Leben verlangt wird.
So hat Goethe nach vielseitigsten Einsicht gestrebt, aber in seiner Lebenstätigkeit hat er sich nur auf eins beschränkt. Nur eine einzige Kunst hat er geübt, und zwar meisterhaft geübt, nämlich die: deutsch zu schreiben. Daß der Stoff, den er aussprach, vielseitiger Natur war, ist eine andere Sache.
Gleicherweise soll man Ausbildung von Lebenstätigkeit wohl unterscheiden.
So gehört zur Ausbildung des Dichters, daß sein Auge zur Auffassung der äußeren Gegenstände auf alle Weise geübt werde. Und wenn Goethe seine praktische Tendenz zur bildenden Kunst, insofern er sie zu seiner Lebenstätigkeit hätte machen wollen, eine falsche nennt, so war sie wiederum ganz am Orte, insofern es seine Ausbildung als Dichter galt.
»Die Gegenständlichkeit meiner Poesie«, sagte Goethe, »bin ich denn doch jener großen Aufmerksamkeit und Übung des Auges schuldig geworden; so wie ich auch die daraus gewonnene Kenntnis hoch anzuschlagen habe.«
Hüten aber soll man sich, die Grenzen seiner Ausbildung zu weit zu stecken.
»Die Naturforscher«, sagte Goethe, »werden am ersten dazu verführt, weil zur Betrachtung der Natur wirklich eine sehr harmonische allgemeine Ausbildung erfordert wird.«
Dagegen aber soll sich jeder, sobald es die Kenntnisse betrifft, die zu seinem Fache unerläßlich gehören, vor Beschränkung und Einseitigkeit zu bewahren suchen.
Ein Dichter, der für das Theater schreiben will, soll Kenntnis der Bühne haben, damit er die Mittel erwäge, die ihm zu Gebote stehen, und er überhaupt wisse, was zu tun und zu lassen sei; so wie es dem Opernkomponisten nicht an Einsicht der Poesie fehlen darf, damit er das Schlechte vom Guten unterscheiden könne und seine Kunst nicht an etwas Unzulänglichem verschwendet werde.
»Carl Maria von Weber«, sagte Goethe, »mußte die ›Euryanthe‹ nicht komponieren; er mußte gleich sehen, daß dies ein schlechter Stoff sei, woraus sich nichts machen lasse. Diese Einsicht dürfen wir bei jedem Komponisten, als zu seiner Kunst gehörig, voraussetzen.«
So soll der Maler Kenntnis in Unterscheidung der Gegenstände haben; denn es gehört zu seinem Fache, daß er wisse, was er zu malen habe und was nicht.
»Im übrigen aber«, sagte Goethe, »ist es zuletzt die größte Kunst, sich zu beschränken und zu isolieren.«
So hat er die ganze Zeit, die ich in seiner Nähe bin, mich stets vor allen ableitenden Richtungen zu bewahren und mich immer auf ein einziges Fach zu konzentrieren gesucht. Zeigte ich etwa Neigung, mich in Naturwissenschaften umzutun, so war immer sein Rat, es zu unterlassen und mich für jetzt bloß an die Poesie zu halten. Wollte ich ein Buch lesen, wovon er wußte, daß es mich auf meinem jetzigen Wege nicht weiter brächte, so widerrief er es mir stets, indem er sagte, es sei für mich von keinem praktischen Nutzen.
»Ich habe gar zu viele Zeit auf Dinge verwendet,« sagte er eines Tages, »die nicht zu meinem eigentlichen Fache gehörten. Wenn ich bedenke, was Lopez de Vega gemacht hat, so kommt mir die Zahl meiner poetischen Werke sehr klein vor. Ich hätte mich mehr an mein eigentliches Metier halten sollen.
Hätte ich mich nicht so viel mit Steinen beschäftiget«, sagte er ein andermal, »und meine Zeit zu etwas Besserem verwendet, ich könnte den schönsten Schmuck von Diamanten haben.«
Aus gleicher Ursache schätzt und rühmt er an seinem Freunde Meyer, daß dieser ausschließlich auf das Studium der Kunst sein ganzes Leben verwendet habe, wodurch man ihm denn die höchste Einsicht in diesem Fache zugestehen müsse.
»Ich bin auch in solcher Richtung frühzeitig hergekommen«, sagte Goethe, »und habe auch fast ein halbes Leben an Betrachtung und Studium von Kunstwerken gewendet, aber Meyern kann ich es denn doch in gewisser Hinsicht nicht gleichtun. Ich hüte mich daher auch wohl, ein neues Gemälde diesem Freunde sogleich zu zeigen, sondern ich sehe zuvor zu, wie weit ich ihm meinerseits beikommen kann. Glaube ich nun, über das Gelungene und Mangelhafte völlig im klaren zu sein, so zeige ich es Meyern, der denn freilich weit schärfer sieht und dem in manchem Betracht noch ganz andere Lichter dabei aufgehen. Und so sehe ich immer von neuem, was es sagen will und was dazu gehört, um in einer Sache durchaus groß zu sein. In Meyern liegt eine Kunsteinsicht von ganzen Jahrtausenden.«
Nun aber könnte man fragen, warum denn Goethe, wenn er so lebhaft durchdrungen sei, daß der Mensch nur ein Einziges tun solle, warum denn gerade er selbst sein Leben an so höchst vielseitige Richtungen verwendet habe.
Hierauf antworte ich, daß, wenn Goethe jetzt in die Welt käme und er die poetischen und wissenschaftlichen Bestrebungen seiner Nation bereits auf der Höhe vorfände, auf welche sie jetzt, und zwar größtenteils durch ihn, gebracht sind, er sodann sicher zu so mannigfaltigen Richtungen keine Veranlassung finden und sich gewiß auf ein einziges Fach beschränken würde.
So aber lag es nicht allein in seiner Natur, nach allen Seiten hin zu forschen und sich für die irdischen Dinge klar zu machen, sondern es lag auch im Bedürfnis der Zeit, das Wahrgenommene auszusprechen.
Er tat bei seinem Erscheinen zwei große Erbschaften: der Irrtum und die Unzulänglichkeit fielen ihm zu, daß er sie hinwegräume, und verlangten seine lebenslänglichen Bemühungen nach vielen Seiten.
Читать дальше