»Ich will nicht untersuchen,« sagte Goethe, »inwiefern Sie in diesem Falle recht haben; aber bei Frauenzimmertalenten anderer Art habe ich immer gefunden, daß sie mit der Ehe aufhörten. Ich habe Mädchen gekannt, die vortrefflich zeichneten, aber sobald sie Frauen und Mütter wurden, war es aus; sie hatten mit den Kindern zu tun und nahmen keinen Griffel mehr in die Hand.
Doch unsere Dichterinnen«, fuhr er sehr lebhaft fort, »möchten immer dichten und schreiben, soviel sie wollten, wenn nur unsere Männer nicht wie die Weiber schrieben! Aber das ist es, was mir nicht gefällt. Man sehe doch unsere Zeitschriften und Taschenbücher, wie das alles so schwach ist und immer schwächer wird! Wenn man jetzt ein Kapitel des ›Cellini‹ im ›Morgenblatt‹ abdrucken ließe, wie würde sich das ausnehmen!
Unterdessen«, fuhr er heiter fort, »wollen wir es gut sein lassen und uns unseres kräftigen Mädchens in Halle freuen, die uns mit männlichem Geiste in die serbische Welt einführt. Die Gedichte sind vortrefflich! Es sind einige darunter, die sich dem ›Hohen Liede‹ an die Seite setzen lassen, und das will etwas heißen. Ich habe den Aufsatz über diese Gedichte beendigt, und er ist auch bereits abgedruckt.« Mit diesen Worten reichte er mir die ersten vier Aushängebogen eines neuen Heftes von ›Kunst und Altertum‹ zu, wo ich diesen Aufsatz fand. »Ich habe die einzelnen Gedichte ihrem Hauptinhalte nach mit kurzen Worten charakterisiert, und Sie werden sich über die köstlichen Motive freuen. Rehbein ist ja auch der Poesie nicht unkundig, wenigstens was den Gehalt und Stoff betrifft, und er hört vielleicht gerne mit zu, wenn Sie diese Stelle vorlesen.«
Ich las den Inhalt der einzelnen Gedichte langsam. Die angedeuteten Situationen waren so sprechend und so zeichnend, daß mir bei einem jeden Wort ein ganzes Gedicht sich vor den Augen aufbildete. Besonders anmutig wollten mir die folgenden erscheinen:
1.
Sittsamkeit eines serbischen Mädchens, welches die schönen Augenwimpern niemals aufschlägt.
2.
Innerer Streit des Liebenden, der als Brautführer seine Geliebte einem Dritten zuführen soll.
3.
Besorgt um den Geliebten, will das Mädchen nicht singen, um nicht froh zu scheinen.
4.
Klage über Umkehrung der Sitten, daß der Jüngling die Witwe freie, der Alte die Jungfrau.
5.
Klage eines Jünglings, daß die Mutter der Tochter zu viel Freiheit gebe.
6.
Vertraulich-frohes Gespräch des Mädchens mit dem Pferde, das ihr seines Herrn Neigung und Absichten verrät.
7.
Mädchen will den Ungeliebten nicht.
8.
Die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter den Gästen.
9.
Finden und zartes Aufwecken der Geliebten.
10.
Welches Gewerbes wird der Gatte sein?
11.
Liebesfreuden verschwatzt.
12.
Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet sie am Tage, überrascht sie zu Nacht.
Ich bemerkte, daß diese bloßen Motive so viel Leben in mir anregten, als läse ich die Gedichte selbst, und daß ich daher nach dem Ausgeführten gar kein Verlangen trage.
»Sie haben ganz recht,« sagte Goethe, »es ist so. Aber Sie sehen daraus die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen sie, und denken dabei bloß an die Empfindungen, an die Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln. Überhaupt haben die Dilettanten und besonders die Frauen von der Poesie sehr schwache Begriffe. Sie glauben gewöhnlich, wenn sie nur das Technische loshätten, so hätten sie das Wesen und wären gemachte Leute; allein sie sind sehr in der Irre.«
Professor Riemer ließ sich melden; Hofrat Rehbein empfahl sich. Riemer setzte sich zu uns. Das Gespräch über die Motive der serbischen Liebesgedichte ging fort. Riemer kannte schon, wovon die Rede war, und er machte die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhaltsandeutungen nicht allein Gedichte machen könne, sondern daß auch jene Motive, ohne sie aus dem Serbischen gekannt zu haben, von deutscher Seite schon wären gebraucht und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Gedichte von sich selber, so wie mir während dem Lesen schon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die ich erwähnte.
»Die Welt bleibt immer dieselben sagte Goethe, »die Zustände wiederholen sich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere: warum sollte denn der eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen des Lebens sind sich gleich: warum sollten denn die Situationen der Gedichte sich nicht gleich sein?«
»Und eben diese Gleichheit des Lebens und der Empfindungen«, sagte Riemer, »macht es ja, daß wir imstande sind, die Poesie anderer Völker zu verstehen. Wäre dieses nicht, so würden wir ja bei ausländischen Gedichten nie wissen, wovon die Rede ist.«
»Mir sind daher«, nahm ich das Wort, »immer die Gelehrten höchst seltsam vorgekommen, welche die Meinung zu haben scheinen, das Dichten geschehe nicht vom Leben zum Gedicht, sondern vom Buche zum Gedicht. Sie sagen immer: das hat er dort her, und das dort! Finden sie z. B. beim Shakespeare Stellen, die bei den Alten auch vorkommen, so soll er es auch von den Alten haben! So gibt es unter andern beim Shakespeare ein Situation, wo man beim Anblick eines schönen Mädchens die Eltern glücklich preiset, die sie Tochter nennen, und den Jüngling glücklich, der sie als Braut heimführen wird. Und weil nun beim Homer dasselbige vorkommt, so soll es der Shakespeare auch vom Homer haben! – Wie wunderlich! Als ob man nach solchen Dingen so weit zu gehen brauchte, und als ob man dergleichen nicht täglich vor Augen hätte und empfände und ausspräche!«
»Ach ja,« sagte Goethe, »das ist höchst lächerlich!«
»So auch«, fuhr ich fort, »zeigt selbst Lord Byron sich nicht klüger, wenn er Ihren ›Faust‹ zerstückelt und der Meinung ist, als hätten Sie dieses hier her und jenes dort her.«
»Ich habe«, sagte Goethe, »alle jene von Lord Byron angeführten Herrlichkeiten größtenteils nicht einmal gelesen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den ›Faust‹ machte. Aber Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet; sobald er reflektiert, ist er ein Kind. So weiß er sich auch gegen dergleichen ihn selbst betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken sollen. Was da ist, das ist mein! hätte er sagen sollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleichviel, es kam bloß darauf an, daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine Szene meines ›Egmonts‹, und er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verstand geschah, so ist er zu loben. So auch hat er den Charakter meiner Mignon in einem seiner Romane nachgebildet; ob aber mit ebensoviel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons Verwandelter Teufel ist ein fortgesetzter Mephistopheles, und das ist recht! Hätte er aus origineller Grille ausweichen wollen, er hätte es schlechter machen müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat daher auch die Exposition meines ›Faust‹ mit der des ›Hiob‹ einige Ähnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.«
Goethe war in der besten Laune. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er Riemern und mir einschenkte; er selbst trank Marienbader Wasser. Der Abend schien bestimmt zu sein, mit Riemern das Manuskript seiner fortgesetzten Selbstbiographie durchzugehen, um vielleicht hinsichtlich des Ausdruckes hin und wieder noch einiges zu verbessern. »Eckermann bleibt wohl bei uns und hört mit zu«, sagte Goethe, welches mir sehr lieb war zu vernehmen. Und so legte er denn Riemern das Manuskript vor, der mit dem Jahre 1795 zu lesen anfing.
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