Die Persönlichkeit des Herrn H. mußte auf Goethe einen guten Eindruck machen, denn seine große Liebenswürdigkeit und heitere Milde zeigte sich dem Fremden gegenüber heute in ihrer wahren Schönheit. »Sie haben wohl getan,« sagte er, »daß Sie, um Deutsch zu lernen, zu uns herübergekommen sind, wo Sie nicht allein die Sprache leicht und schnell gewinnen, sondern auch die Elemente, worauf sie ruhet, unsern Boden, Klima, Lebensart, Sitten, gesellschaftlichen Verkehr, Verfassung und dergleichen mit nach England im Geiste hinübernehmen.«
»Das Interesse für die deutsche Sprache«, erwiderte Herr H., »ist jetzt in England groß und wird täglich allgemeiner, so daß jetzt fast kein junger Engländer von guter Familie ist, der nicht Deutsch lernte.«
»Wir Deutschen«, versetzte Goethe freundlich, »haben es jedoch Ihrer Nation in dieser Hinsicht um ein halbes Jahrhundert zuvorgetan. Ich beschäftige mich seit funfzig Jahren mit der englischen Sprache und Literatur, so daß ich Ihre Schriftsteller und das Leben und die Einrichtung Ihres Landes sehr gut kenne. Käme ich nach England hinüber, ich würde kein Fremder sein.
Aber, wie gesagt, Ihre jungen Landsleute tun wohl, daß sie jetzt zu uns kommen und auch unsere Sprache lernen. Denn nicht allein, daß unsere eigene Literatur es an sich verdient, sondern es ist auch nicht zu leugnen, daß, wenn einer jetzt das Deutsche gut versteht, er viele andere Sprachen entbehren kann. Von der französischen rede ich nicht, sie ist die Sprache des Umgangs und ganz besonders auf Reisen unentbehrlich, weil sie jeder versteht und man sich in allen Ländern mit ihr statt eines guten Dolmetschers aushelfen kann. Was aber das Griechische, Lateinische, Italienische und Spanische betrifft, so können wir die vorzüglichsten Werke dieser Nationen in so guten deutschen Übersetzungen lesen, daß wir ohne ganz besondere Zwecke nicht Ursache haben, auf die mühsame Erlernung jener Sprachen viele Zeit zu verwenden. Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen. Dieses und die große Fügsamkeit unserer Sprache macht denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen.
Und dann ist wohl nicht zu leugnen, daß man im allgemeinen mit einer guten Übersetzung sehr weit kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber er las seinen Cicero in der französischen Übersetzung ebenso gut als wir andern in der Ursprache.«
Dann das Gespräch auf das Theater wendend, fragte Goethe Herrn H., ob er es viel besuche. »Ich besuche das Theater jeden Abend,« antwortete dieser, »und ich finde, daß der Gewinn für das Verstehen der Sprache sehr groß ist.« – »Es ist merkwürdig,« erwiderte Goethe, »daß das Ohr und überhaupt das Vermögen des Verstehens dem des Sprechens voraufeilt, so daß einer bald sehr gut alles verstehen, aber keineswegs alles ausdrücken kann.« – »Ich finde täglich,« entgegenete Herr H., »daß diese Bemerkung sehr wahr ist; denn ich verstehe sehr gut alles, was gesprochen wird, auch sehr gut alles, was ich lese, ja ich fühle sogar, wenn einer im Deutschen sich nicht richtig ausdrücket. Allein wenn ich spreche, so stockt es, und ich weiß nicht recht zu sagen, was ich möchte. Eine leichte Konversation bei Hofe, ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beim Tanz und dergleichen gelingt mir schon. Will ich aber im Deutschen über einen höheren Gegenstand meine Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigentümliches und Geistreiches sagen, so stockt es, und ich kann nicht fort.« – »Da trösten und beruhigen Sie sich nur,« erwiderte Goethe; »denn dergleichen Ungewöhnliches auszudrücken wird uns wohl in unserer eigenen Muttersprache schwer.«
Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deutscher Literatur gelesen habe. »Ich habe den ›Egmont‹ gelesen«, antwortete dieser, »und habe an dem Buche so viele Freude gehabt, daß ich dreimal zu ihm zurückgekehrt bin. So auch hat ›Torquato Tasso‹ mir vielen Genuß gewährt. Jetzt lese ich den ›Faust‹. Ich finde aber, daß er ein wenig schwer ist.« Goethe lachte bei diesen letzten Worten. »Freilich«, sagte er, »würde ich Ihnen zum ›Faust‹ noch nicht geraten haben. Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus. Aber da Sie es von selbst getan haben, ohne mich zu fragen, so mögen Sie sehen, wie Sie durchkommen. Faust ist ein so seltsames Individuum, daß nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können. So der Charakter des Mephistopheles ist durch die Ironie und als lebendiges Resultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas sehr Schweres. Doch sehen Sie zu, was für Lichter sich Ihnen dabei auftun. Der ›Tasso‹ dagegen steht dem allgemeinen Menschengefühl bei weitem näher, auch ist das Ausführliche seiner Form einem leichteren Verständnis günstig.« – »Dennoch«, erwiderte Herr H., »hält man in Deutschland den ›Tasse‹ für schwer, so daß man sich wunderte, als ich sagte, daß ich ihn lese.« – »Die Hauptsache beim ›Tasso‹«, sagte Goethe, »ist die, daß man kein Kind mehr sei und gute Gesellschaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geist und Zartsinn und genugsamer äußerer Bildung, wie sie aus dem Umgange mit vollendeten Menschen der höheren und höchsten Stände hervorgeht, wird den ›Tasso‹ nicht schwer finden.«
Das Gespräch lenkte sich auf den ›Egmont‹, und Goethe sagte darüber folgendes: »Ich schrieb den ›Egmont‹ im Jahre 1775, also vor funfzig Jahren. Ich hielt mich sehr treu an die Geschichte und strebte nach möglichstes Wahrheit. Als ich darauf zehn Jahre später in Rom war, las ich in den Zeitungen, daß die geschilderten revolutionären Szenen in den Niederlanden sich buchstäblich wiederholten. Ich sah daraus, daß die Welt immer dieselbige bleibt und daß meine Darstellung einiges Leben haben mußte.«
Unter diesen und ähnlichen Gesprächen war die Zeit des Theaters herangekommen, und wir standen auf und wurden von Goethe freundlich entlassen.
Im Nachhausegehen fragte ich Herrn H., wie ihm Goethe gefallen. »Ich habe nie einen Mann gesehen,« antwortete dieser, »der bei aller liebevollen Milde so viel angebotene Würde besäße. Er ist immer groß, er mag sich stellen und sich herablassen, wie er wolle.«
Dienstag, den 18. Januar 1825
Ich ging heute um fünf Uhr zu Goethe, den ich in einigen Tagen nicht gesehen hatte, und verlebte mit ihm einen schönen Abend. Ich fand ihn, in seiner Arbeitsstube in der Dämmerung sitzend, in Gesprächen mit seinem Sohn und dem Hofrat Rehbein, seinem Arzt. Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch. Wir sprachen noch eine Weile in der Dämmerung; dann ward Licht gebracht, und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen frisch und heiter vor mir zu sehen.
Er erkundigte sich, wie gewöhnlich, teilnehmend nach dem, was mir in diesen Tagen Neues begegnet, und ich erzählte ihm, daß ich die Bekanntschaft einer Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht gewöhnliches Talent rühmen, und Goethe, der einige ihrer Produkte gleichfalls kannte, stimmte in dieses Lob mit ein. »Eins von ihren Gedichten,« sagte er, »wo sie eine Gegend ihrer Heimat beschreibt, ist von einem höchst eigentümlichen Charakter. Sie hat eine gute Richtung auf äußere Gegenstände, auch fehlt es ihr nicht an guten inneren Eigenschaften. Freilich wäre auch manches an ihr auszusetzen, wir wollen sie jedoch gehen lassen und sie auf dem Wege nicht irren, den das Talent ihr zeigen wird.«
Das Gespräch kam nun auf die Dichterinnen im allgemeinen, und der Hofrat Rehbein bemerkte, daß das poetische Talent der Frauenzimmer ihm oft als eine Art von geistigem Geschlechtstrieb vorkomme. »Da hören Sie nur,« sagte Goethe lachend, indem er mich ansah, » geistigen Geschlechtstrieb! – wie der Arzt das zurechtlegt!« – »Ich weiß nicht, ob ich mich recht ausdrücke,« fuhr dieser fort, »aber es ist so etwas. Gewöhnlich haben diese Wesen das Glück der Liebe nicht genossen, und sie suchen nun in geistigen Richtungen Ersatz. Wären sie zu rechter Zeit verheiratet und hätten sie Kinder geboren, sie würden an poetische Produktionen nicht gedacht haben.«
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