Den Verbreitern der indischen Lehren voran schreitet Svami Vivekananda, dem das vorliegende Werk von einem Yogi Ramacharaka gewidmet ist. Der Yogi, ein Okkultist höchsten Wissens und tiefster Weisheit hält sich hinter seinen Schriften verborgen. Seine Werke sollen Jahrhunderte alte Weisheit reden, er selbst will schweigen. So ist es auch unmöglich, von dem Yogi biographische Daten zu erlangen.
Ramacharaka in abgeklärter Weisheit sieht wohl ein, was von dem übersprudelnden Abendländer gern übersehen wird, dass körperliche und geistige Entwicklung miteinander Hand in Hand gehen müssen.
Der Abendländer neigt immer zu Extremen, eine Gruppe verpönt die Körperkultur als minderwertig und von höheren Dingen abziehend, die andere vernachlässigt die Geisteskultur und gibt sich in Sporten aller Art aus. Wenige Abendländer nur wissen das Gleichgewicht ihrer Kräfte zu gewinnen.
Die „Wissenschaft des Atmens“ befasst sich mit einer vernünftigen Körperkultur, die durch richtiges Atmen erzielt wird. Die okkulte Grundlage, auf der die Schrift beruht, ist schon längst den Yogis der Hindu geläufig.
Ramacharakas Lehren sind trotz ihrer Einfachheit, oder besser, eben deshalb von allseitiger Wirkung.
Er führt den Schüler, der sie treu ausübt, bis zu hohen Stufen erreichbarer Vollkommenheit. Aber es fordert verständnisvolle Arbeit, bis zu jenen höheren Graden vorzudringen; mancher Fehlgang mag die ersten Schritte begleiten und die Erfolge sind langsam und fast unmerklich. Plötzlich tritt die Tatsache über die Schwelle des Bewusstseins: die Macht über den Willen und die Beherrschung geistiger Heilformen ist errungen! Durch eine bloße Atmungsübung weichen Krankheit und Sorge, während die Umgebung noch mühselig ihrem Schnupfen mit Rezepten aus der lateinischen Küche beizukommen sucht.
So ist das Werk in Wahrheit „ein Geschenk an die westlichen Brüder“ wie Yogi Ramacharaka es will, und der Dank des Westens sei ihm in diesen Worten ausgesprochen.
Wien.
S. von der Wiesen.
Das Zuviel und Zuwenig von den zwei Hauptfaktoren des Lebens: Atem und Diät wirkt bestimmend auf das Wohlbefinden des menschlichen Organismus ein. Zu den Kulturschätzen des indischen Volkes gehören jahrhundertelang erprobte Methoden die körperlichen Kräfte bis aufs äußerste zu steigern und zu beherrschen im Sinne der göttlichen Entwicklung des Menschengeschlechtes. Hochstehende indische Yogis unter anderen Ramacharaka und Swami Vivekananda haben der westlichen Kulturwelt einen Teil der praktischen Vedanta-Lebenskunst übermittelt. Um wirklichen Nutzen aus den vorliegenden Übungen zu ziehen, sind folgende Regeln zu beobachten:
1) Jedes Kapitel muss gründlich studiert werden. Alles Oberflächliche ist gerade bei dieser Wissenschaft zu vermeiden.
2) Jedes Kapitel muss gründlich verstanden sein, ehe eine neue Lektion begonnen wird.
3) Die körperliche Übung muss im Einklang stehen mit der Bildung des Charakters und des auf das allgemeine Gute gerichteten Willens. Normaldauer der Übungen nicht länger als 3 Minuten.
4) Konzentration auf die vorgeschriebene Idee der Übung.
Nur wer sich streng an diese Grundregeln hält, wird einen überraschenden Fortschritt in seinem körperlichen Wohlbefinden verspüren. Wer sich dazu gleichzeitig einer strengen Diät unterzieht, wird noch größere Erfolge erzielen. „Der Mensch ist, was er isst“, dieser oft so verlachte Grundsatz der Materialisten hat einen tieferen Sinn, auch vom esoterischen Standpunkte, als man ursprünglich glauben wollte. Nicht auf die Menge und Wohlschmeckenheit der Speisen kommt es dabei an, sondern auf das „Wie“ des Essens und die individuelle Auswahl und Zusammensetzung der Speisen sowie auf den Geist, in dem sie genossen werden. Tatsächlich hat unsere vorgeschrittene Kultur eine große Verweichlichung und Vernachlässigung unserer Körperkräfte mit sich gebracht. Dem müssen wir entschieden entgegenarbeiten, ehe es zu spät wird. Eine rechte Atmungsweise ist das erste, das uns wieder aufwärtsführen soll. Denn durch den Atem ernähren wir unseren Körper und fördern gleichzeitig den Stoffwechsel. Daraus ergibt sich, dass wer dieses Werk durchstudiert und die vorgeschriebenen Atemübungen streng durchgeführt hat, notgedrungen eine neue Diät einhalten muss und von selbst darauf kommen wird. Denn ein Körper, der durch einen reinigenden Atemstrom aufbauend schafft, wird in seiner Tätigkeit durch unreine oder unmäßige Speisen beeinträchtigt. So verweisen wir den Schüler als sekundäres Werk zu der Wissenschaft des Atmens auf die Diätetik von W. Omar, und das Masdasnan Reformkochbuch, die ihm die wichtigsten Kapitel einer vernunftgemäßen Lebensweise, nebst dem Speisezettel für das ganze Jahr vorschreibt.
Gisela Holz.
1. Kapitel: Salaam-A-le-i-kum (Frieden mit euch!)
Der Schüler des Westens ist zu einiger Verwirrung in seinen die Yogis und ihre Philosophie und Übungen betreffenden Ideen geneigt. Indienreisende haben viele Fabeln von den Horden von Fakiren, Bettelmönchen und Quacksalbern geschrieben, die die großen Heerstraßen und die Straßen der Städte unsicher machen und sich betrügerischerweise den Titel „Yogi“ beilegen. Der Schüler des Westens ist kaum zu tadeln, wenn er den typischen Yogi sich als einen ausgemergelten, fanatischen, schmutzigen, unwissenden Hindu vorstellt, der entweder in einer bestimmten Stellung sitzt, bis sein Körper versteinert, oder etwa seine Arme in die Luft hält, bis sie steif und verwelkt werden, und dann für immer in dieser Stellung verbleibt, oder gar seine Fäuste ballt und zuhält, bis die Fingernägel durch den Handteller wachsen. Wohl gibt es solche Leute, das ist wahr; aber ihr Anspruch auf den Titel „Yogi“ erscheint dem echten Yogi so absurd, wie dem berühmten Wundarzt der Anspruch eines Hühneraugenoperateures auf den Titel „Doktor“ oder wie dem Präsidenten von Havard oder Yale der Titel „Professor“ vorkommt, den der Verkäufer von Wurmmitteln an der Straßenecke sich beilegt.
Durch lange Vergangenheiten sind in Indien und andern östlichen Ländern Männer aufgestanden, welche ihre Zeit und Aufmerksamkeit der physischen, mentalen und spirituellen Entwicklung der Menschheit geweiht haben. Generationen von ernsten Suchern haben Jahrhunderte hindurch ihre Erfahrungen von Lehrer auf Schüler übermittelt, und nach und nach eine klarbegrenzte Yogi-Wissenschaft aufgebaut. Diesen Forschungen und Lehren wurde endlich der Terminus „Yogi“ beigelegt, der von dem Sanskritwort „Yug“, das heißt, „sich zusammenschließen“ hergeleitet ist. Aus derselben Quelle stammt das englische Wort „Yoke“, (deutsch „Joch“), und hat auch gleichen Sinn. Sein Gebrauch in Verbindung mit diesen Lehren ist schwer zu bestimmen, da verschiedene Autoritäten verschiedene Erklärungen geben. Die genialste scheint mir die, die es als das Hindu-Äquivalent für den englischen Ausdruck „Getting into harmess“ (im Geschirr gehen) oder „yoking up“ (einspannen) betrachtet, da der Yogi bei seiner Aufgabe, den Körper und den Geist durch seinen Willen zu kontrollieren, offenbar „im Geschirr geht“. 4
YOGA, die Yogi-Weisheit, zerfällt in verschiedene Zweige, von der, die sich mit der Kontrolle des Körpers beschäftigt, beginnend bis hinauf zur Erlangung der höchsten spirituellen Entwicklung. Die vorliegende Arbeit wird nicht auf die höheren Phasen des Gegenstandes eingehen, außer dort, wo die Wissenschaft des Atmens daran streift. Die „Wissenschaft des Atmens“ berührt Yoga an vielen Punkten und hat, obwohl sie sich hauptsächlich mit der Entwicklung und Kontrolle des Physischen beschäftigt, auch ihre psychische Seite, ja, sie dringt sogar auf das Gebiet der spirituellen Entwicklung ein.
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