4Sylvain Cypel, „Comment ‘Bernie’ les a tous bernés.” Le Monde, 16.12.2008.
Teil I: Ans Licht gebracht:
Die Finanzindustrie und ihre Mängel
Frischer Fisch oder Nestlé: Die Geschichte bleibt die Gleiche
Die Gesetze von Angebot und Nachfrage
So verwirrend Finanzmärkte auch scheinen mögen, das System dahinter ist nicht wirklich komplex. Es funktioniert ziemlich einfach: Der Markt ist ein Ort, an dem sich Verkäufer und Käufer treffen, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Auf der einen Seite stehen Unternehmen, die Geld brauchen und damit Investoren die Chance geben, es in ihr Potential zu investieren, um daran zu verdienen. Auf der anderen Seite suchen Investoren nach den besten Aktien oder den potentesten Unternehmen, um ihr Geld zu vermehren.
Der Finanzmarkt ist eine ganz normale „Tausch-Arena“. Stellen Sie sich z. B. vor, Sie gehen auf einen Fischmarkt. Schon am Eingang begrüßt Sie der Geruch nach frischem Fisch. Sie sehen viele Marktstände von Fischern und Fischhändlern, von denen jeder versucht, den besten Preis für seinen Tagesfang zu bekommen. Sie hören den Lärm der Familien und Restauranteinkäufer, die alle nach dem frischesten Fisch zu den niedrigsten Kosten suchen.
Der Aktienmarkt besteht aus vielen Käufern und Verkäufern, die Zugang zu den gleichen Informationen haben. Wenn Sie glauben, Microsoft sei bei 29 USD pro Aktie billig, wetten Sie darauf, dass Sie etwas wissen, das der Händler von Fidelity oder Goldmann Sachs oder irgendeines Hedgefonds noch nicht herausgefunden hat.
Pat Regnier, Journalist
Der Verkäufer kann für seinen Fisch jeden Preis verlangen, den er mag. Er muss dabei natürlich den Bedarf, das Portemonnaie seiner Kunden und die Preise an den anderen Ständen im Auge haben. Der Markt ist immer ein Wettbewerbsfeld, egal ob Kabeljau oder Nestlé-Aktien verkauft werden. Wenn ein Verkäufer seinen Fisch für 20 EUR/kg anbietet und der Nachbarstand den gleichen für 10 EUR/kg verkauft, geht er das Risiko ein, seinen Fang nicht ganz zu verkaufen und so Geld zu verlieren.
Ein ausgewogener Preis liegt in einem engen Rahmen irgendwo zwischen dem Preis, zu dem Verkäufer verkaufen möchte und dem, den der Käufer bereit ist, zu bezahlen. 5So wie der Fischer seinen Preis nicht unter den Punkt senken kann, an dem er das Geld verliert, das er benötigt, um weiter fischen zu können, so kann auch der Käufer mit Rücksicht auf seine anderen Bedürfnisse nicht mehr zahlen, als sein Budget erlaubt. Das Problem liegt nun aber darin, dass beide Limits von einer Unzahl von Faktoren bestimmt sind. Deshalb ist auch der Fischmarkt wie alles in unserem Leben nicht sicher vor plötzlichen Umwälzungen.
Vielleicht hat eine Ölpest das Leben im Meer vernichtet. Oder die Fischerboote konnten wegen eines Sturms nicht auslaufen. Oder es ist plötzlich illegal, mit Netzen zu fischen. Es gibt hunderte unvorhersehbare Gründe, warum die Fänge der Fischer plötzlich schwinden und die Marktstände weniger Fisch zu verkaufen haben. Weil aber immer noch genauso viele Leute kaufen wollen wie vorher, wird Fisch zu einer gefragten Ware und die Fischer können die Preise anheben.
Die Nachfrage kann den Preis aber genauso beeinflussen wie das Angebot. Wenn aus irgendeinem Grund von einem Tag auf den anderen auf dem Markt weniger los ist, müssen die Fischer ihren Fang billiger verkaufen, um ihre Verluste zu minimieren.
5Alfred Marshall, Principles of Economics, 8th ed. New York : Cosimo Inc., 2009.
Diese Marktzyklen, sowohl die positiven als auch die negativen, lassen sich in keiner Weise vorhersagen. An der Börse werden jedes Jahr Milliarden an Finanz-Analysten bezahlt, die vorhersagen, welche Aktien steigen und welche fallen. 6Ihr Fachwissen beruht auf raffinierten Untersuchungen. Können sie aber auch eine Ölkrise, einen Staatsbankrott oder eine Naturkatastrophe antizipieren? Marktpreise werden nicht nur von nationalen oder globalen Ereignissen beeinflusst. Auch nur allzu menschliche Regungen, wie frivol sie immer sein mögen, können heftige Auswirkungen haben. 1998 machte während der Nachrichten zum „Monica Lewinski Skandal“ im Weißen Haus – einer intimen Beziehung zwischen zwei Erwachsenen – der Dow Jones Industrial Average eine Abwärtsdelle.
Ob Sie es glauben oder nicht, der menschliche Faktor und die Natur im Allgemeinen haben – obwohl prinzipiell nicht vorhersehbar – wesentlichen Einfluss auf die Finanzwelt. Der Markt schwankt als Reaktion auf die unterschiedlichsten Parameter, die jeden Tag die Aktienpreise verändern. 7
Zwei Dinge sind sicher:
• Niemand kann die Zukunft vorhersagen
• Auch in der Finanzwelt kann niemand die Zukunft vorhersagen
Das Finanzwesen ist keine exakte Wissenschaft, obwohl das oft so dargestellt wird. Von dieser falschen Vorstellung profitiert die Finanzbranche. Wir lassen uns von Spezialisten mit ihrer scheinbaren Logik, die sich auf einen riesigen Zahlenfundus stützt, aufs Glatteis führen, oder von Berechnungen, die uns die Sicht auf die Grundprinzipien der Finanzwelt verstellen. Die Finanzwirtschaft ist eine menschliche und soziale Wissenschaft ohne mathematische Genauigkeit. Dieses Kerncharakteristikum macht deshalb jederlei Prognose unmöglich. Und wenn schon niemand den Preis für Fisch auf dem Dorfmarkt im Vorhinein weiß, wie kann er dann die Preise auf den wuchernden internationalen Finanzmärkten vorhersagen?
6Mark Hulbert, „Can you beat the Market? It’s a $100 Billion Question.” New York Times, 09.03.2008.
7„The price of any stock is unpredictable.” Paul A. Samuelson, „Proof That Properly Anticipated Prices Fluctuate Randomly.” Industrial Management Review 6:2 (1965): 41.
Verschiedenste Akteure spielen auf der riesigen Bühne des Finanzmarkts eine Rolle. Die verschiedenen Finanzberufe sind schwer zu definieren und zu sortieren. Schauen wir uns zunächst die beiden Hauptaktivitäten einer Bank an, um zu verstehen, wie eine Bank arbeitet.
Die vorrangige Funktion einer Bank ist die sichere Verwahrung der Depots, um die physische Sicherheit von Geld zu gewährleisten. Außer diesem Service stellt eine Bank auch andere Annehmlichkeiten zur Verfügung wie Buchführung, Überweisungen, Scheckbücher, Kreditkarten und Kredite an Einzelpersonen oder Unternehmen.
Die Menschen, denen diese logistischen und Verwaltungstätigkeiten obliegen, sind quasi das „Back-Office“ oder das Verwaltungspersonal, das die Anweisungen der Kunden ausführt.
Auf diesem Niveau ist das Verhältnis zwischen Bank und Kunde klar und überschaubar. Der Kunde versteht die Dienstleistung der Bank und die Gebühren, die er dafür bezahlen muss.
Mit diesen Grundtätigkeiten kann sich der Banker schon einen ordentlichen Lebensunterhalt verdienen – aber nicht mehr, als sagen wir einmal ein Supermarktleiter, dessen Ladenkette die gleichen Produkte zu ähnlichen Preisen verkauft wie andere Ladenketten. Weil alle Banken Depots anbieten, müssen sie wettbewerbsfähig bleiben, so dass damit auch die Angebote und Gebühren in der gesamten Branche vergleichbar werden.
Jeder weiß aber, dass es einen Riesenunterschied zwischen dem Gehalt eines Supermarktleiters und dem eines Bankers gibt. Wie kann der Banker also so viel mehr verdienen?
Zusätzlich zu ihrem Depotservice haben Banken neue Betätigungsfelder gefunden: Sie entwickeln und verkaufen Finanzprodukte.
Hier wird der Banker ein bisschen zum Werbefunksprecher, der die Käufer aufruft, die neuesten Rabattaktionen zu testen. Geschäfte machen oft den besten Profit mit Sonderangeboten, wenn sie ihre Ware an den Mann bringen wollen: „Nur diese Woche: Alt für neu – jedes Haushaltgerät im Angebot. Bringen Sie Ihren alten Toaster, Ihren Küchenquirl oder Ihre Kaffeemaschine und holen Sie sich das neuste Modell – zu Tiefstpreisen! Aber beeilen Sie sich – die Aktion läuft nur bis morgen!“
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