Sie wollte und konnte derzeit nicht darüber nachdenken, dass dieser Adol sie offenbar schon länger ins Visier genommen zu haben schien. Es kam ihr auf einmal wichtig vor, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Irgendwo müsste man ja anfangen!
»Wer bist du, Adol?«, stellte sie ihm deshalb noch einmal dieselbe Frage.
»Ich bin dein Traumbegleiter, dein Zeitgeist.«
»Ist das so etwas wie ein Traum- oder Schlafgott? Mein Go... ähm, meine Güte. Ich habe darüber gelesen: über Morpheus, dem Gott des Traumes, und Hypnos und andere. Die Namen weiß ich nicht mehr. Das ist aber doch einfach nur griechischer Mythos, sonst nichts. Morpheus konnte sich in jede x-beliebige Form verwandeln und in Träumen erscheinen.« Sie betrachtete das Bett, auf dem sie saß. »Sein Bett soll aus Elfenbein gebaut sein und in einer dunklen Höhle stehen. Sein Symbol ist die Kapsel des Opium-Schlafmohnes.« Manuela sah ihn staunend an. »Du bist ein Oneiroi?«
»Du kennst dich recht gut aus in griechischer Mythologie«, stellte er fest, und sie stellte fest, dass er ihr keine Antwort gegeben hatte.
»Nein, ich kenne mich nicht richtig aus. Ich habe mich nur früher einmal ein bisschen dafür interessiert, früher, bevor ... Ach, egal! Du hast meine Frage nicht beantwortet. Bist du ein Oneiroi?«
»Wie wir beide schon gesagt haben: Das ist nur Mythos, Manuela – Mythologie, Sage, Legende, Märchen. Ich bin kein Oneiroi in dem Sinne, wie du sie aus der griechischen Mythologie kennst, weil es solche Wesen gar nicht gibt. Was jedoch nicht bedeutet, dass es gar keine Wesen gibt, die nicht deiner Welt entspringen und deshalb anders sind. Die alten Griechen sind der Wahrheit durchaus nahegekommen.«
Es wird Zeit, dass ich endlich aufwache , überlegte sie. Das geht mir alles viel zu weit.
Bei dem Gedanken an ihr Zuhause legte sich allerdings die Angst schon wieder bleiern über sie. Sie spürte, dass Adol diese Angst von ihr nahm, so, als würde er ihr einen schweren Mantel abstreifen. Überhaupt fühlte sie sich ungewohnt wohl in seiner Nähe, ohne Furcht, voller Selbstwert. Ein gutes Gefühl, wie sie fand, aber nicht von Dauer. Je früher sie sich der Wahrheit stellte, desto besser. Sie sollte sich endgültig von Frederick befreien. Nur, wie?
»Frederick ist tot, Manuela, und das weißt du auch. Er hat dich wie von Sinnen geschlagen, getreten, gewürgt und mit einem Messer bedroht. Letzteres hatte er bis dato noch nie getan. Er hätte dich getötet, wenn du das Messer nicht zu fassen bekommen hättest. Es war Notwehr. Du musstest dich schützen.«
»Mein Gott, ab...« Adol unterbrach sie mit einem wütenden Zischen, doch ließ sie sich diesmal nicht davon beirren. »Aber wenn ich schon fünf Tage hier bin, wie soll ich mich denn da verteidigen? Man wird glauben, dass ich ihn ermordet habe und dann davongelaufen bin.«
»Nein, das wird man nicht. Wenn es so weit ist, wirst du zur rechten Zeit zurückkehren und alles wird geklärt. Allerdings wirst du dieses furchtbar große Architektenhaus nicht halten können. Dein Mann war völlig überschuldet. Na ja, es gehörte ohnehin nur ihm allein. Dir hat er nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gegönnt.«
»Woher weiß du das alles?« Resigniert ließ sie die Schultern sacken. »Ach, egal, dich gibt es ja sowieso nicht. Gleich tauche ich in meiner eigenen Misere wieder auf, und alles geht weiter wie bisher.«
Ein heftiger Donnerschlag ließ sie aufschreien. Die Fackeln glichen nun Flammenwerfern. Mit einem Ruck brachte er sie unter sich, nahm ihre Arme und zog sie hoch. Ganz dicht senkte er den Kopf über sie, sodass ihr sein blondes Haar ins Gesicht fiel. Er zog die dichten Brauen zusammen und musterte sie. Goldene Sprenkel tanzten in der türkisblauen Iris seiner Augen. Dann spürte sie seine Lippen auf den ihren – glühend heiß! Gnadenlos nahm er Besitz von ihrem Mund, verschaffte sich Zutritt mit seiner starken Zunge, zwang sie dazu, sich ihm zu ergeben. Aber es war kein Gefühl der Erniedrigung, wie sie es von Frederick kannte, wenn sie sich ihm hatte unterwerfen müssen, um Schlimmerem zu entgehen. Dies war eine süße Kapitulation. Alles zog sich in ihr zusammen, wollte gleichzeitig explodieren.
Mit einem Mal wich er zurück. Sie wollte schon protestieren, biss sich aber verlegen auf die Unterlippe.
»Entschuldige«, presste er hervor.
»Oh, schon gut.« Schon gut? Zu einer schlagfertigeren Erwiderung war sie nicht fähig. Stattdessen fuhr sie sich gedankenverloren mit der Zunge über die Lippen, um seinem Kuss nachzuspüren.
»Ob du mir in diesem Augenblick glaubst oder nicht, tut erst mal nichts zur Sache, Manuela«, gab er nun kühl von sich. Von seiner Heißblütigkeit war nichts mehr zu spüren. »Du wirst erst in deine Welt und Zeit zurückkehren, wenn ich es für richtig erachte. Solange kannst du dich damit befassen, mich für nicht existent zu halten oder mich zu akzeptieren!«
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Als er sie Wochen später in ihre Welt entließ, und zwar bis auf die Sekunde in die richtige Zeit, fand sie Frederick in seinem Blut. Sie stellte sich der Polizei, ihrem neuen Leben – und Adol, der sie seitdem nicht mehr losließ. In ihrer Zeitrechnung mehr als drei Jahre lang!
Der Traum einer jeden Frau
Noch bevor die Erinnerungen verblassten und sie die Stirn vom Küchentisch heben konnte, stand Adol vor ihr. Die Daumen in die Schlaufen seiner verwaschenen Jeans geschoben, baute er sich vor ihr auf, den Kopf mit tadelndem Blick schiefgelegt.
»Wieso hast du das getan, Manuela?«
Sie wusste, er meinte die Frage bitterernst. Nicht, weil er ihren vollen Namen aussprach. Das tat er immer. Er benutzte niemals Koseworte, wie Liebling oder Schatz, oder Abkürzungen, wie Ela oder Manu. Das war nicht seine Art, und das störte sie auch nicht.
Sie störte sich daran, dass er nicht verstand, was in ihr vorging, obwohl er beinah jeden ihrer Gedanken las. Dass sie so nicht hatte weitermachen können und wollen, erkannte er einfach nicht. Sie war aus einem mehr als fünfjährigen Horrorszenario – mit Frederick – geradewegs in seinen Armen gelandet, ohne einmal durchatmen zu können. Danach hatte sie drei Jahre lang bei, mit, neben Adol gelebt, das Verlangen nach Eigenständigkeit aber nicht unterdrücken können. Sie hatte endlich auf eigenen Füßen stehen, ihr Leben selbst bestimmen und gestalten wollen.
»Das hättest du doch alles haben können, Manuela, ohne dich von mir fortzuschleichen.«
»Ich hab mich nicht fortgeschlichen«, widersprach sie vehement. »Ich ...«
»Hast du nicht?«, höhnte er dazwischen. »Wie willst du es denn sonst nennen? Sira hat mir zwar nichts verraten, aber ich weiß, dass sie dir dabei geholfen hat, dich aus meiner Welt und Zeitlinie fortzustehlen. Ich brauchte tatsächlich ein wenig, um dich aufzustöbern, nach meiner Zeit drei unendlich lange Tage. Ohne deinen Traum letzte Nacht hätte ich es nicht so schnell geschafft. Aber egal, wie lange ich auch gesucht hätte, du glaubst doch nicht im Ernst, ich hätte dich entkommen lassen?«
Entnervt rieb Manuela sich die Stirn, wusste sie doch, dass Adol keineswegs klar war, wie sehr seine Worte denen Fredericks ähnelten. Ihm jetzt in die Augen zu sehen, fiel ihr schwer, denn selbst nach drei Jahren versetzte sein atemberaubender Anblick ihr nach wie vor einen süßen Stich und ließ sie schwanken. Sie war ihm verfallen, mit Haut und Haar, hoffnungslos.
Und schon erzählte ihr Mund ganz andere Dinge, als ihr Hirn ihm aufgetragen hatte: »Adol, ich liebe dich – wirklich. Wie oft habe ich dir das schon gesagt?« Im Gegensatz zu dir!, dachte sie bitter. »Aber ich gehöre nicht zu dir. Ich bleibe für immer ein Fremdkörper. Es wurde mit der Zeit immer schwerer für mich, dieses Doppelleben zu führen. Eines mit dir und eines hier in meiner Welt. In beiden Welten besaß ich nichts Eigenes. Etwas, das ganz allein mir gehört. In beiden Welten war ich ein Nichts.« Sie deutete auf die Küchenmöbel. »Deshalb habe ich mir das hier aufgebaut. Es gefällt mir.«
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