»Sie ein Schicksal, Fräulein Suse? Ihr Rosenangesicht sieht wahrhaftig nicht danach aus, als hätte des Schicksals Flügelschlag Sie gestreift«, rief Herr Bonin lachend.
»Es ist aber ein Schicksal, die älteste von sieben zu sein. Man ist und bleibt ein Aschenbrödel.«
»Aschenbrödel geht aber nun zum Ball, da wird sein dunkles Schicksal sich wenden. Der Märchenprinz erscheint, der schöne Wolfgang! Ein Königreich hat er freilich nicht zu vergeben.«
»Ach nein, er ist arm wie Hiob«, rief Suse, indem sie sich erhob, »aber stolz wie ein Spanier; er sieht die Blume am Wege nicht, die still für ihn nur blüht. Ich bin aber nicht diese Blume – ich nicht!«
Lachend ging sie davon.
Die ganze Familie saß schon beim Abendessen, als Suse nach Hause kam.
»Na ja, über so einer Tanzaussicht vergißt solch Backfisch natürlich Zeit und Stunde und alle häuslichen Pflichten«, sagte Doktor Hebert, als sie die großen Ereignisse berichtete. Suse löffelte etwas beschämt ihre Milchsuppe, das Tischdecken, ihr Amt, hatte jemand anders besorgen müssen, wahrscheinlich Martha und Emmy, denn danach sah es aus. Lange aber währte die Beschämung nicht, munter plauderte sie weiter, neckte sich mit den Brüdern, die ein Tanzvergnügen für »höheren Blödsinn« erklärten.
»Eure Stunde wird auch noch schlagen, wo ihr euch glücklich schätzt, mit solch einem holden Wesen, einem Backfisch, zu tanzen!« rief sie lachend.
»Holdes Wesen, na, ich danke!« sagte Otto wegwerfend. Er war der älteste der beiden Gymnasiasten. »Eitle Närrinnen seid ihr!«
»Wir! Ich bin nun bald siebzehn Jahre und über die Backfischzeit hinaus, bin eine erwachsene junge Dame, die nächstens mit euren Lehrern tanzen wird.«
»Na, mit diesen steifbeinigen Herren, das muß ein großes Vergnügen werden!« spottete Georg.
»Nun decke endlich den Tisch ab, Suse!« sagte Frau Hebert, dem Wortgeplänkel ein Ende machend. »Nachher will ich dir dann auch etwas Neues erzählen.«
»Ach, noch etwas Neues?« sagte Suse interessiert, indem sie die Teller zusammensetzte. »Das ist ja wirklich ein ereignisreicher Tag heute.«
»Wir werden nämlich Besuch, vielmehr ein Pensionärin bekommen«, begann die Mutter.
»Doch nicht etwa ein Kind, dem man bei den Schularbeiten helfen muß?« fragte Suse erschrocken.
»Nein! Irma Lindstädt, die Tochter meiner verstorbenen Jugendfreundin ist kein Kind mehr. Sie muß wohl so an fünfundzwanzig Jahre alt sein.«
»So alt schon! Und die will zu uns kommen? Ja, was will sie denn hier?«
»Sie möchte sich gern etwas nützlich machen auf der Welt, schreibt sie. Sie sei es müde, immerfort umherzureisen und nur ihrem Vergnügen zu leben. Gelernt habe sie leider nicht viel, besitze aber den besten Willen, etwas zu lernen und tätig zu sein. Das arme Mädchen steht ganz allein auf der Welt, ihre Eltern sind vor einigen Jahren gestorben, müssen ihr aber wohl ein schönes Vermögen hinterlassen haben.«
»Vermögen hat sie?« rief Suse. »Und da will sie sich hier bei uns vergraben, sich nützlich machen? Sie ist gewiß schon eine ganz schrullige alte Jungfer; wäre sie ein neuzeitlich angehauchtes Menschenkind, so ginge sie sicher nach Berlin, da kann man sich ausleben.«
»Sprich doch nicht so töricht! Ausleben! Was das nun wieder für ein Wort ist! Das rührt gewiß von Herta her.«
»Nein, vom Landrat!«
»Nun ja, man merkt, daß du von Herta kommst; für die wäre es auch ein wahrer Segen, wenn sie irgendeine Beschäftigung hätte, sie würde gesünder und vernünftiger werden.«
»Aber warum soll sie ihr Leben nicht genießen, wenn sie es doch haben kann? Fünfundzwanzig Jahre, wie dieses Fräulein Irma, ist sie ja noch nicht. Ich bin nur ungeheuer neugierig auf die neue Hausgenossin hast du ihr schon geantwortet?«
»Es soll sofort geschehen, und du wirst, während ich schreibe, die Strümpfe für Otto und Georg stopfen.«
Suse seufzte. Strümpfe stopfen war ihr ein Greuel. Vielleicht übernahm später die sich nützlich machende Irma diese unliebsame Arbeit. Das war ein Gedanke! Auch andere Arbeiten würde sie ihr abnehmen, schließlich war sie ganz überflüssig, konnte hinausziehen in die Welt, ihres Herzens heißem Drang folgen. Freilich – nützlich machen mußte sie sich dann auch, aber in anderer Weise als hier im elterlichen Hause. Dunkel schwebten ihr verlockende Zukunftsbilder vor, während sie mechanisch die Wollfäden hin und her zog.
Da stürmten die Brüder herein.
»Suse, sieh, bitte, einmal meinen Aufsatz durch, ob ich keine Fehler gemacht habe!« bat Otto ganz manierlich, und dann kam Elly und bettelte. Suse sollte ihr aus einem alten, schon ganz abgegriffenen Märchenbuch vorlesen.
· · ·
Suse, die Brüder, Martha und Emmy befanden sich an einem trüben Herbsttage in größter Spannung und Aufregung. Irma Lindstädt, die Pensionärin, sollte heute einrücken, ein großes Ereignis für die Doktorskinder, seit acht Tagen sprachen sie fast von nichts anderem.
Ein reizendes Stübchen, das bis jetzt unbenutzt gewesen, war neu tapeziert worden. Frau Doktor war nach der Bahnstation gefahren und hatte für Suse alle möglichen Aufträge hinterlassen; sie sollte den Kaffeetisch hübsch decken und sehen, ob sie noch einige Blumen in dem herbstlichen Garten fände, das sehe gleich ein wenig festlich aus. Ein paar Astern, Levkoien und duftende Reseda fand denn Suse auch noch.
»Nanu, was ist denn heute bei Ihnen los?« Mit diesen Worten trat Kurt Sello heran. »Ihre Frau Mutter fuhr vorhin fort, Ihre kleinen Schwestern stehen schon eine ganze Weile erwartungsvoll am Gitter drüben, und Sie haben den Garten seines letzten Schmuckes beraubt. Für wen ist der schöne Strauß gewunden?«
»Für unsere neue Hausgenossin.«
»Eine neue Hausgenossin? Davon hörte ich ja noch gar nichts.«
»Ach, das wissen Sie noch nicht, daß wir eine Pensionärin bekommen? Ein Fräulein von fünfundzwanzig Jahren, aber reich.«
»Also reich! Wie heißt denn die Dame?«
»Fräulein Irma Lindstädt.«
»Irma Lindstädt?«
Die Stimme des jungen Mannes klang heiser, tonlos. Suse sah ihn verblüfft an; er war totenblaß geworden. Nun wendete er sich jäh um und ging den langen, öden Gartenweg hinunter bis zu den Taxushecken. Dort war eine Bank. Auf diese setzte er sich und stützte schwer den Kopf in beide Hände. Er muß sie kennen, diese Irma, dachte Suse, sie muß irgendeine Rolle in seinem Leben spielen. Hat er sie geliebt?
Ganz zusammengeknickt saß er da. Jetzt fielen einzelne Regentropfen; Kurt Sello aber schien es nicht zu bemerken, unbeweglich wie ein Steinbild ließ er den Regen auf sich niederrieseln.
Nachdenklich ging Suse mit ihrem Strauß dem alten Schloß zu. Sollte es nun seinen Roman bekommen, das alte, öde Gebäude? Kurt Sello? Irma Lindstädt?
Da rollte ein Wagen über die Rampe. In fliegender Hast eilte sie hinunter.
Gott im Himmel, das sollte eine fünfundzwanzigjährige alte Jungfer sein, dieses wunderschöne Mädchen mit dem goldblonden Haar, den zarten Farben, den großen braunen Augen? Ach, und welch elegante Figur, wie vornehm das graue Reisekleid! Und diese Prinzessin sollte hier Strümpfe stopfen, kleine Kinder beaufsichtigen? Den armen Musiklehrer mit seiner großen Liebe, den hatte sie natürlich verschmäht. Wer so schön war und dazu auch noch so reich, der konnte andere Ansprüche machen. Schrecklich aber würde es für ihn sein, wenn er sie nun wiedersah. Ob er noch unten im Garten saß?
Der Wagen hielt. Suse half den Damen beim Aussteigen, die Mädchen kamen, das Gepäck hineinzutragen. Martha und Emmy schlichen sich heran, mit großen, verwunderten Augen blickten sie auf die schöne Fremde.
»Sie ist so schön!« flüsterte Emmy der Schwester zu.
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