Suse war dunkelrot geworden.
»Soll ich Kathrinchen nehmen?« stammelte sie in ihrer Verlegenheit.
»Ja, das kannst du. Ich wollte sie ihren jungen Paten doch noch bringen, ehe sie in ihr Bettchen gelegt wird.«
Die jungen Mädchen sprangen auf.
»Ich möchte einmal nach Hause laufen«, sagte Hilde zögernd. »Vielleicht ist eine Depesche von Wolfgang gekommen.«
»Bitte, geniere dich nicht«, rief Suse lachend. »Du hast ja doch keine Ruhe mehr; bleib aber nicht zu lange, es gibt noch Abendbrot.«
Hilde eilte davon, ihre Wohnung lag ganz in der Nähe und war schnell erreicht. Nach einer halben Stunde kam sie mit strahlendem Gesicht wieder zurück.
»Oh, die Freude, die Freude!« rief sie. »Er hat das Examen bestanden! Mit dem Depeschenboten zusammen betrat ich unser Haus. Mamas und meine Hände zitterten so, daß wir das Telegramm kaum öffnen konnten, aber dann der Jubel! Das ist der schönste Tag meines Lebens!«
Die anderen jungen Mädchen, die ihr nun herzlich gratulierten, wurden auch ganz aufgeregt über das große Ereignis. Grete meinte, der Tauftag Klein-Kathrinchens hätte dadurch eine ganz besondere Weihe erhalten, eigentlich müßten das süße Baby und der neugebackene Leutnant dereinst ein Pärchen werden.
»Arme Doktorstöchter dürfen überhaupt nicht ans heiraten denken«, erklärte Suse da. »Unser Patenkind soll einmal etwas Ordentliches lernen; wir Paten wollen es uns geloben, dafür zu sorgen, denn meine Eltern denken an so etwas nicht. Wenn ich als älteste einmal zur Hausunke bestimmt bin, will ich wenigstens alles daransetzen, daß meine Schwestern etwas lernen.«
»Ich will es auch!« rief Grete.
Frau Hebert rief die jungen Mädchen jetzt zu Tisch, aber nicht nach dem Eßzimmer an die Familientafel, das wäre kein großes Vergnügen für die junge Gesellschaft gewesen. Sie hatte für sie auf einem Balkon, deren das alte Schloß mehrere besaß, ein Tischchen decken lassen. Der Juniabend war köstlich.
Die Gläser, mit der leichten Erdbeerbowle gefüllt, klangen zusammen, das Patenkindchen mußte man doch leben lassen, und dann Wolfgang von Bork, den jungen Leutnant. Herta hatte diesen Toast ausgebracht.
»Na, Hertachen, du siehst ja so gedankenvoll aus!« rief Grete neckend. »Vor deinen Augen steht wohl der schöne Marsritter in all seiner Unwiderstehlichkeit?«
Herta wurde dunkelrot, als hätte man sie auf etwas Unrechtem ertappt.
»Ach der, der wird ja doch nie eine von uns ansehen«, seufzte sie dann so recht aus tiefstem Herzen.
»Mein Bruder hat sich eben von Jugend auf hohe Ziele gesteckt«, sagte Hilde, »daß er für Nebensächliches wenig Zeit gehabt hat.«
»Das Nebensächliche sind natürlich wir«, bemerkte Suse bitter.
Es war ziemlich spät, als Suses Freundinnen den Heimweg antraten. Suse war wieder nach dem Balkon zurückgekehrt. Die Nacht war so wundervoll. Träumerisch blickte sie auf das vom Mondlicht beleuchtete graue Gemäuer des Schlosses.
Stolze Reichsgrafen hatten einst hier residiert, lange Jahre hatte es dann zum Gerichtsgebäude der Stadt gedient. Nun trippelten kleine Kinderfüße darin treppauf, treppab.
In dem einen Seitenflügel waren von der praktischen Frau Doktor einige Räume vermietet worden. Ein junger Musiklehrer wohnte dort mit seiner Mutter. Kurt Sello hatte Musik studiert und gab Klavierunterricht in der Stadt. Auch Suse hatte Stunden bei ihm und ging sehr gern hinüber.
Es war so still und friedlich in der kleinen Wohnung, ganz anders als bei ihnen, wo ewige Unruhe herrschte und sie von den Geschwistern fortwährend in Trab gehalten wurde. Hier konnte man sich doch einmal ausruhen und so schön träumen, wenn der junge Musiklehrer auf dem Flügel fantasierte. Auch heute klang sein Spiel durch die stille Nacht zu ihr herüber.
Deutlich sah sie im Geiste sein blasses, nervöses Gesicht vor sich, das lockige Haar, die großen, dunklen Augen, die immer über die Welt mit ihren Sorgen und Mühen hinwegzublicken schienen, in eine bessere, von ihm erträumte.
Wer auch so spielen könnte! Eine Künstlerin werden und dann in die Welt hinausziehen! Unsinn, sie, Suse Hebert, eine Künstlerin! Solche törichte Gedanken konnten ihr auch nur an diesem zauberischen Sommerabend kommen.
Und glücklich soll sie ja auch nicht machen, die Kunst; Kurt Sello hatte das neulich erst ausgesprochen und dabei so traurig ausgesehen. Sie, mit ihren sechzehn Jahren im Schoße einer glücklichen Familie lebend, verstehe das allerdings nicht.
Da war es losgebrochen bei ihr, ihr ganzes bedrücktes Herz hatte sie ihm ausgeschüttet; wie sie sich fortsehne hinaus in die Welt und etwas Tüchtiges lernen möchte wie andere jungen Mädchen. Sein ganzes Leben lang das Aschenbrödel der Familie zu sein, denn als älteste von sieben Geschwistern sei man das – es wäre schrecklich!
Nicht jede Natur eigne sich zu einem selbständigen Dasein, hatte er erwidert. »Hunderte stehen vor, hinter und neben einem, denselben Zielen zustrebend, einer sucht den andern zu überholen, zurückzudrängen. Ich war froh, als ich endlich zu dem Entschluß gekommen war, den aussichtslosen Kampf aufzugeben.«
Er sei krank, furchtbar nervös, hatte Frau Sello gesagt, und dann war sie an einem trüben Novembertag nach der Bahnstation gefahren, ihn abzuholen.
Alle Doktorskinder, Suse an der Spitze, hatten sich an der Gartenmauer hinter den Taxushecken aufgestellt, den Einzug des jungen Künstlers mit anzusehen. Ein heißes Mitleid war in Suses Herz aufgestiegen, als sie das blasse, traurige Gesicht Kurt Sellos gesehen.
Unter der Pflege seiner Mutter hatte er sich dann ja ziemlich schnell erholt. Nun war er schon beinahe drei Jahre ihr Hausgenosse, gab Klavierstunden in der Stadt, komponierte, leitete den klassischen Gesangverein, und jetzt bewarb er sich um die Musikdirektorstelle am Gymnasium, wo auch sein Vater früher Lehrer gewesen war.
Das Klavierspiel im Seitenflügel brach plötzlich ab. Suse atmete tief auf. Sehnend blickte sie in die Ferne. Dort, hinter der Hügelkette lag die Welt, nach der ihr junges Herz krampfhaft verlangte. Sie würde sicher nicht flügellahm zurückkehren, dürfte sie hinausziehen. Sie war ja keine Künstlerin, nur ein ganz gewöhnliches Menschenkind. Aber – sie durfte ja nicht ziehen!
»Die älteste Tochter gehört ins Haus, wenn sechs jüngere Geschwister vorhanden sind!« hatte ihr Vater erklärt, als sie gewagt, ihre Zukunftsträume wieder einmal laut werden zu lassen. Unter ihrer Mutter Leitung könne sie alles lernen, was zu einer tüchtigen Hausfrau gehöre, und weiter sei nichts nötig.
Wenn sie aber nun nicht heirate, was sie dann mit solchen Hausfrauenkenntnissen solle, wagte sie einzuwenden.
»Vorläufig bleibt meine älteste Tochter im Hause und hilft der Mutter«, wurde ihr kurz und bündig erwidert. Wenn Martha die Schule verließe, könne man ja die Sache wieder ins Auge fassen. Martha, die kleine Träumerin, die immer so still mit Puppen und Blumen spielte, sie sollte dereinst ihre Nachfolgerin in der Aschenbrödellaufbahn werden! Ordentliches Mitleid erfaßte sie mit dem kleinen, sinnigen Geschöpf. Aber ehe es erwachsen, war ja noch endlos lange Zeit, bis dahin hatte sie alle Zukunftsträume wohl längst begraben.
· · ·
Vorläufig wurden diese Zukunftsträume nun allerdings von Suse noch nicht begraben. Mit einer gewissen Ergebenheit ertrug sie ihr Schicksal, die älteste zu sein, und besorgte ihre vielen Pflichten.
Sehr häufig erschienen ihre Freundinnen, sich nach ihrem Patenkindchen umzusehen Herta und Grete hatten ja kaum andere Pflichten, besonders Herta, das Kind des Reichtums.
Grete Bonin führte weniger in materieller, als in geistiger Hinsicht ein glückliches, reiches Leben. Wirkliche Sorgen hatte von den vier jungen Mädchen bis jetzt nur Hilde kennengelernt. Sie war zwölf Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb. Aber sie hatte tapfer ihren Schmerz zurückgedrängt und war der Sonnenschein der armen, schwergeprüften Mutter geworden. Den kleinen Haushalt besorgte sie nun schon ganz allein ohne Mädchen, sparte, soviel sie konnte, so daß für Wolfgang die nötige Unterstützung stets vorhanden war. Was sie für sich brauchte, verdiente sie sich mit Handarbeiten. Sie war eben eine jener immer seltener werdenden selbstlosen Frauennaturen, die ganz in Liebe und Sorge für andere aufgehen.
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