Während der Inspektor noch einmal durch ein Fenster sah und überlegte, ob er nicht einfach versuchen sollte, dort hineinzukommen, hörte er, wie wenige Meter neben ihm die Türe zu einem der anderen Apartments aufgeschlossen wurde, hatte sich aber nicht wirklich darum kümmern wollen. Das änderte sich jedoch sofort, als eine ältere, etwas heisere Stimme ihn ansprach: "Masakiri-san ist nicht zuhause", sagte sie.
"Ich weiß", gab Toritaka zurück und wandte sich um. Die Türe des Apartments nebenan war einen Spalt geöffnet worden, gerade so weit, dass die innenliegende Türkette voll gespannt war, und von innen spähte ein Auge hervor, das durch ein dickes Brillenglas starrte. "Masakiri-san ist vor kurzem verstorben."
Das Auge verengte sich misstrauisch. "Wenn sie das wissen", meinte die heisere Stimme, "dann können sie ja gehen."
Der Inspektor lächelte mit besonderer Freundlichkeit. "Leider ist mir das nicht möglich", sagte er und zog zur Erklärung seinen Polizeiausweis aus der Manteltasche. "Ich bin Inspektor Toritaka vom Keishicho." Er verwendete den japanischen Ausdruck für die Metropolitan Police, der vielen älteren Menschen eher ein Begriff als der neuere, englische Name war. "Ich untersuche den Todesfall."
"Ich dachte", sagte die heisere Stimme, "es war Selbstmord?" Das einzelne sichtbare Auge fokussierte den Polizeiausweis.
"Dazu kann ich ihnen leider nichts sagen", gab Toritaka zurück. "Aber sie sind ja offensichtlich bereits gut informiert. Ich nehme an, sie kannten Masakiri-san gut?"
Das Auge entspannte sich etwas. "Wir waren Nachbarn."
Langsam nickte der Inspektor. "Was für eine Art Mensch war er?"
"Das ist..." Die Stimme stockte. "Eigentlich kannte ich ihn gar nicht", setzte sie hastig nach.
"Nicht?" Toritaka zog eine Augenbraue hoch. "Als seine Nachbarin? Das ist aber ungewöhnlich, um nicht zu sagen, verdächtig. Sie waren im Streit miteinander, nehme ich an?"
Das Auge weitete sich entsetzt. "Nein... keineswegs! Ich... ich bin keine verdächtige Person! Warten sie..." Die Türe wurde geschlossen, es gab ein Klicken, dann öffnete sie sich ganz und eine ältliche Dame mit grauem, hochgestecktem Haar trat heraus, wahrscheinlich Anfang sechzig und nur knapp einssechzig groß. Sie war in einen grobgestrickten Hausmantel gekleidet, unter dem der einfache Stoff billiger Kaufhauskonfektion hervorlugte.
Der Inspektor nickte zufrieden - in einfachen bürgerlichen Kreisen genügte meist schon die Andeutung, dass man unter einen Verdacht geraten könnte, um Kooperation hervorzurufen. "Ich möchte ihnen wirklich keine Umstände machen", sagte er beruhigend, "aber ich bin sehr dankbar, dass sie mir weiterhelfen möchten. Wie ist denn ihr Name?"
"Ich bin Suitengo Hikari, Inspektor-san", beeilte sich die Dame zu sagen und verneigte sich hastig. "Su-i-ten-go..."
"Danke, sie müssen ihn nicht buchstabieren", lächelte Toritaka. "Ich werde ihn für die Akten vom Einwohneramt abrufen. Also, sie sagten, sie kannten Masakiri-san nicht besonders gut?"
Der Blick Suitengo-sans wurde wieder etwas enger. "Er war kein Mensch, den man gerne kannte", sagte sie. "Irgendwie passte er nicht hier ins Viertel. Sehr... aus sich herausgehend, verstehen sie, was ich meine?"
Langsam nickte der Inspektor. "Er hat sein Leben wohl zu auffällig gelebt", meinte er. "Ich nehme an, er war nichts anderes gewohnt als Angestellter im Bankgewerbe."
"Auffällig ist das falsche Wort", korrigierte die ältere Frau ihn. "Gekleidet war er immer sehr anständig, und viel von ihm gehört hat man auch nicht. Nur..." Ihre Stimme wurde etwas leiser, und sie trat einen Schritt näher an den Inspektor heran. "Alle hier wussten doch, dass er die Nacht zum Tag macht."
"Wie meinen sie das?" Toritaka war etwas verwirrt. "Er hat nachts gearbeitet?"
Mit großer Geste winkte Suitengo-san ab. "Gearbeitet, von wegen", ereiferte sie sich. "Gefeiert hat er, so ziemlich jedes Wochenende. Er kam an Samstagen nie vor drei Uhr morgens zurück; das hätte ich mir mal erlauben sollen, als ich noch im Büro gearbeitet habe! Und dann war er immer sturzbetrunken; es ist doch furchtbar, wenn Männer sich so gehen lassen!"
Der Inspektor nickte verstehend. "Er war also ein Genussmensch."
"Und wie." Die alte Dame nickte heftig. "Gelegentlich musste ihn sogar ein Arbeitskollege nach Hause bringen, weil er nocht mehr laufen konnte. Und der hat sich nicht mal geschämt, in Gesellschaft von Lolita-Nutten hier aufzutauchen!"
"Lolita-Nutten?" Jetzt wurde es anscheinend interessant. "Woran haben sie erkannt, dass das Prostituierte waren?"
Suitengo-san stemmte die Hände in ihre knochigen Hüften. "Na, das sieht man doch", meinte sie empört. "Warum sonst sollten sich junge Frauen erst schminken wie Filmstars, aber dann Oberschuluniformen anziehen?"
Interessiert klappte Toritaka seinen Notizblock auf. "Wie sahen denn diese Uniformen aus?"
"Das Kleid schwarz", beschrieb die ältere Dame, "aber mit rotem Rand. Der Kragen weiß, auch mit rotem Rand und rotem Halstuch, und weiße lose Socken über den Schuhen. Weiße Bluse, schwarze Weste. Marineschnitt."
"Beeindruckend, ihr Gedächtnis." Der Inspektor nickte anerkennend, während er die Details notierte. "Woher können sie sich so viel merken?"
Auf Suitengo-sans Gesicht zeigte sich ein schmales Lächeln. "Vierzig Jahre in der Kundenberatungszentrale der Stadtverwaltung", sagte sie. "Im Januar hat man mich vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Aber eine gute Erinnerung an Kleinigkeiten habe ich immer noch." Sie tippte an ihr Brillengestell. "Und mit dem da sehe ich so scharf wie ein Wanderfalke."
Toritaka lächelte. "Das glaube ich ihnen", sagte er freundlich. "Aber etwas wüsste ich doch noch gerne... Masakiri-san, hat er sich auch mit... Nutten herumgetrieben?"
"Oh, das weiß ich nicht." Die ältliche Dame zuckte mit den Schultern. "Hierher mitgebracht hat er sie nie, und was er drüben in Shibuya angestellt hat, weiß ich nicht."
"Er war also oft in Shibuya?"
Wieder hob Suitengo-san die Schultern. "Wo soll er sich sonst herumgetrieben haben?"
Dem Inspektor wären auf Anhieb noch eine Menge anderer Orte eingefallen, an denen man Kontake zu Prostituieren anbahnen und sich betrinken konnte, vor allem das Hafenviertel von Odaiba, aber er hatte nicht vor, sich bei seiner Gesprächspartnerin unbeliebt zu machen. "Herzlichen Dank dann nochmals für ihre Auskünfte", sagte er, "ich bin sicher, das bringt mich weiter. Nur fürs Protokoll... der Name von Masakiri-sans Geschäftskollege, wissen sie den zufällig?"
"Das war ein gewisser Honda-san", berichtete die Frau. "Masakiri-san nannte ihn immer 'Nori-kun'."
"Honda-san", wiederholte Toritaka, wärend er den Namen notierte. "Gut, das war dann alles, Suitengo-san. Wenn ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen sie mich doch an." Er zog hinter dem Notizblock eine seiner Visitenkarten hervor und reichte sie ihr. "Ich bin eigentlich immer erreichbar."
Mit einer höflichen Verbeugung verabschiedete sich der Inspektor. Suitengo-san hatte ihm mehr geholfen, als sie wusste, denn Toritaka hatte es vermieden, den "enjo kusai" zu erwähnen, den er eigentlich bestätigt haben wollte und zu dem er nun eine gute Spur hatte. Junge Frauen in Oberschuluniform - der Verdacht lag nahe, dass es sich dabei tatsächlich um Schülerinnen handelte, und er glaubte sogar, die Uniform zuordnen zu können. Schwarz mit weißem Halstuch und roten Akzenten - das klang sehr nach der Metropolitan High School, einer sehr renommierten Oberschule, die direkt Absolventen für die Metropolitan University vorbereitete. Die Metropolitan University war in Sachen Geisteswissenschaften das, was die berühmte Universtät von Tokyo für Medizin und Naturwissenschaften war: die beste Adresse in Japan. Ein teures Pflaster, und mit Sicherheit musste man da auch schon als Oberschüler einiges an Geld haben, um seinem eigenen Sozialprestige zu entsprechen...
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