Die eigentlichen Verschwörer werden sich ihrer Verantwortung stellen müssen, wenn sie es nicht bereits von sich aus tun werden. Aber nicht er. Seine Schuld wäre getilgt und die erdrückenden siebzehn Jahre des Schweigens würde er irgendwie mit sich alleine ins Reine bringen.
Mit diesen Gedanken lösen sich seine Erstarrung und seine Regungslosigkeit. Mit einem Schwung reißt er das Plakat vom Schaufenster, rollt es zusammen und marschiert schnellen Schrittes davon. Morgen würde er es seiner Schwester Felicia bringen. Daran wird auch die nächste Nacht nichts ändern können.
Und eines weiß er sicher: Er wird nicht zu dem Spiel gehen.
Südafrika, Johannesburg, 30.10.1955, Doornfontein. Felicia Mokoena hat an diesem Nachmittag den gewohnten Weg durch Doornfontein wie immer sehr genossen. Sie liebt es, wenn im südafrikanischen Frühling zwischen September und November die Bäume prachtvoll in den sonnengefluteten Alleen stehen und die ganze Stadt eine vorsommerliche Stimmung verströmt. Die sogenannten Jacaranda-Bäume hüllen die Straßen in ein wahrhaftiges Farbenmeer mit ihren glockenförmigen, meist purpur- bis malvenfarbigen Blüten. Jeder Atemzug ist wie eine neue Dosis Lebenslust. Sie hat die Einkäufe für das bevorstehende Wochenende erledigt und ist auf dem Heimweg zu ihrem kleinen Haus in der Buxton Street. Das Haus hat sie vor zehn Jahren von ihren Eltern übernommen, als diese sich für eine kleinere Unterkunft entschieden haben. Das kleine Haus mit Garten, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat und für das Felicias Eltern, ihrer Meinung nach, ein Leben lang geschuftet haben. Ein Leben, das nie einfach war.
1922 war sie als Tochter des schwarzen Hausmeisterehepaars der örtlichen Schule, Tau sen. und Florence Mokoena, zur Welt gekommen. In Zeiten der Apartheid war und ist es ein täglicher Kampf, seinen Platz im Leben in einer Welt, die Menschen aufgrund ihrer weißen Hautfarbe noch immer bevorzugt, zu sichern. Doch das hat sie von ihren Eltern gelernt. Bis heute geht sie stolz und erhobenen Hauptes ihren Weg. Sie und ihr Sohn Tutu, für den sie alle verdammten, als er sich auf den Weg in diese Welt machte. Tutu zählt nämlich zu den sogenannten Coloureds, den Mischlingen in Südafrika, da sein Vater ein Weißer ist. Felicia hat die Hausmeisterstelle zusammen mit ihrem Bruder Tau jun. von den Eltern übernommen, als diese in den wohlverdienten Ruhestand gingen. Das Geld, das sie verdient, reicht gerade so zum Leben. Ihr Bruder Tau jr., der zwei Jahre älter ist als sie, lebt mit seiner Frau im selben Stadtteil.
Gleich wird Tutu ihr die Türe öffnen, ihr die Taschen abnehmen und dann werden sie bei Kaffee und Kuchen im Garten den Freitagnachmittag verstreichen lassen. In Felicias Garten stehen zwar keine Jacaranda-Bäume, aber sie freut sich dennoch auf ihre farbenprächtige Kulisse in ihrer kleinen Oase. Felicia pflegt mit Hingabe ihre Strelitzien, ihre Paradiesvogelblumen, die dem Stück Kuchen mit Tutu die würdige Atmosphäre liefern. Danach wird Tutu mit seinen Freunden unterwegs sein und das tun, was 16-Jährige nun mal so tun, wenn am nächsten Tag keine Schule ist. Felicia hat schon immer Vertrauen zu Tutu gehabt und ihn nie danach gefragt, mit wem er seine Zeit verbringt. Bis vor ein, zwei Jahren kannte sie noch all seine Freunde, denn Fußballspielen im Garten war das Einzige, was Tutu in seiner Freizeit wichtig war. Interessanterweise wollte er nie zu einem Verein gehen, um dort unter professionelleren Bedingungen Fußball zu spielen. Aber er liebt diesen Sport. Doch seit einigen Monaten gibt es an den Wochenenden offenbar Orte, die wesentlich mehr Anziehungskraft versprühen, als der heimische Garten. Neue Namen tauchen jetzt häufig in seinen Erzählungen auf, zu denen Felicia noch kein Gesicht hat. Mädchennamen sind allerdings Mangelware. Tutu scheint wohl ein Spätstarter zu sein. Vor allem, was zwischenmenschliche Beziehungen zu Mädchen anbelangt. Nicht, dass er sie nicht sehen und hübsch finden würde, aber es ist anscheinend noch nicht der richtige Zeitpunkt, sich auf mehr einzulassen. Auch wenn die Mädchen diese Einschätzung mit Tutu so manches Mal nicht teilen. Felicia weiß, dass sie einen aufgeweckten und verantwortungsvollen jungen Mann zu Hause hat, deshalb kommentiert sie all das mit einem Lächeln. Ihrem Lächeln, dessen Anziehungskraft man sich seit jeher nur schwer entziehen kann und welches Felicia ihrer Mutter beinahe aufs Haar gleichen lässt. Felicia hat ihre Schönheit zweifelsohne von ihrer Mutter Florence geerbt. Ihre Gesichtszüge sind noch etwas markanter, feiner und schärfer gezogen und dank einer stattlichen Größe von 1,75 m geht eine gewaltige Strahlkraft von ihr aus.
Ihr Lächeln strahlt noch heller, als sie auf den letzten Metern des Heimwegs ihren Bruder Tau jr. vor ihrer Haustür erblickt, der offenbar überlegt, ob er klingeln soll.
Tau jr., ihr Bruder, der sie ihr Leben lang beschützt hat. Der seinem Vater Tau sen. wie aus dem Gesicht geschnitten ist und auch im Wesen seinem alten Herrn immer ähnlicher wird. Harte Schale, aber weicher Kern. Sie liebt ihn, wie nur eine Schwester ihren Bruder lieben kann. Die Sicherheit, die ihr Tau jr. Zeit ihres Lebens gegeben hat, hat ihr immer wieder die Kraft gegeben, nach Rückschlägen aufzustehen und weiterzumachen. Damals, vor siebzehn Jahren, als sie mit Tutu schwanger war, und auch vor zwei Jahren, als sie einen neuen Mann kennenlernte, den sie drei Monate später bereits heiratete. Nach ein paar Affären in den Jahren zuvor, die allesamt so verheißungsvoll begannen und am Ende doch nur heiße Luft waren, hatte sie sich wieder dafür entschieden, ihr Herz einem netten Mann zu schenken, für den sie auch als alleinerziehende Mutter eines unehelichen Kindes interessant zu sein schien. Das war außergewöhnlich. Doch lange war der neue Mann nicht nett. Bereits ein paar Wochen nach der Hochzeit begann er, sich als Tyrann zu entpuppen. Felicias hübscher Körper war das Einzige, woran er Interesse hatte. Leider nicht, um ihm Gutes zu tun. Sobald sie sich nicht zu seiner Zufriedenheit um das Haus und sein leibliches Wohl kümmerte, schlug er sie. Ging sie aus und kam zu spät nach Hause, schlug er sie und es war ihr danach lange verboten, wieder auszugehen. Widersprach sie ihm, schlug er sie. Wollte sie ihren ehelichen Pflichten nicht nachkommen, schlug er sie solange, bis sie sich gefügig zeigte. Drohte sie mit Scheidung, schlug er sie ebenfalls und drohte mit noch schlimmeren Konsequenzen, falls sie es tatsächlich wagen sollte, sich gegen ihn zu stellen. So ertrug sie all seine körperlichen und seelischen Misshandlungen, bis zu dem Tag, an dem sich seine Aggressionen das erste Mal an Tutu entluden. Das konnte sie nicht mehr verantworten. Ein Jahr war vergangen seit der Hochzeit und in einem langen tränenreichen Gespräch beichtete sie ihrem Bruder Tau jr. schließlich alles. Tau jr. vermutete schon länger, dass etwas nicht stimmte, aber mit diesem Ausmaß hatte er niemals gerechnet. Was dann folgte, erinnerte sehr an Francis Ford Coppolas „Der Pate“, als Sonny Corleone zu Carlo, dem Mann seiner Schwester Conny fuhr, nachdem dieser sie wieder einmal grün und blau geschlagen hatte. Genauso wie Sonny schlug Tau jr. seinen Schwager krankenhausreif und eine Woche später willigte der „Göttergatte“ freiwillig in die Scheidung ein. Tau jr. machte ihm, wie damals Sonny Carlo, ein Angebot, das er nicht abschlagen konnte. Entweder er würde die Scheidungspapiere unterschreiben, ohne irgendwelche Ansprüche geltend zu machen, oder er würde nie wieder etwas unterschreiben können. Das war durchaus überzeugend. Der Spuk war vorüber.
Seither gibt es keinen festen Partner in Felicias Leben. Die Mauer, die sich seit diesen Ereignissen wieder um ihr Herz gebildet hat, ist höher, als je zuvor.
Doch ihr Bruder ist ihr Anker, ihr Fels in der Brandung. Sie begrüßt ihn freudestrahlend.
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