»Also gut, Ben«, feuerte er das Spiegelbild über der Waschnische an, »dann mal los und zusammenfassen, was du bisher weißt. Irgendwas ist faul mit diesen Flügen, und du wirst rauskriegen, was es ist!«
Er lockerte die Krawatte und setzte sich auf das schmale Bett, die einzige bequem aussehende Sitzgelegenheit in der Kabine. Dann zog er sein kleines blaues Notizbuch aus der Innentasche des Jacketts. Nachdenklich biss er auf das Ende des darin steckenden Bleistifts und dachte nach.
Was genau wusste er zu diesem Zeitpunkt? Die Luftschifffahrtslinie, zu der die Demetrio gehörte, war vor fast genau einem Jahr gegründet worden und hatte drei Luftschiffe in ihrem Dienst, die regelmäßig zwischen Nord- und Südamerika, aber auch transkontinental nach Europa flogen. Nein, korrigierte er sich, nicht fliegen, Luftschiffe fahren ja. Das hatte er zumindest in den Unterlagen gelesen, die die fleißige Gloria ihm zusammengestellt hatte.
Das und die interessante Info, dass es vor allem auf den Flügen nach Europa immer wieder zu ungewöhnlichen Vorfällen kam: ungeplante Kursänderungen, Verspätungen bei klarster Wetterlage, plötzliche Ausfälle in der Crew. Und die Linie machte einen erstaunlichen Gewinn, dafür, dass sie bei hohen Betriebskosten so wenige Gäste beförderte. Gut, die Reisen waren teuer – Luxusreisen eben – aber für die Zahlen, die er gesehen hatte, einfach nicht teuer genug.
Er sah sich in der Kabine um. Sie war relativ klein, aber elegant eingerichtet. Neben dem allgegenwärtigen Aluminium, aus dem die meisten Gegenstände hier an Bord gefertigt waren, hatte man nur beste Materialien für den Rest der Einrichtung verwendet: Seidentapeten für die Wände, Handtücher aus ägyptischer Baumwolle und die Bilder in den Gemeinschaftsräumen waren, soweit er es beurteilen konnte, alles echte Malereien, keine billigen Drucke. Hier hatte jemand guten Geschmack bewiesen und eine Menge Geld investiert.
Er sah wieder auf das Notizbuch in seiner Hand und zog eine senkrechte Linie in der Mitte der Seite und schrieb über die linke Seite »Aufklären«. Dann listete er auf:
Mehrfach Kursänderung trotz Wetterwarnung und ohne Grund
Verspätungen – Grund?
Sichtungen Zeppeline vor allem über Frankreich, nicht reguläre Route – warum?
4 verletzte Crewmitglieder in den letzten 3 Monaten
Hohe Gewinne – wenige Passagiere
Über die rechte Spalte schrieb er »Beobachtungen an Bord« und begann eine weitere Liste:
Einrichtung teuer, keine Kosten gespart
eine Menge Personal, muss ich befragen
Gäste: Mindestens 2 haben Zugang zum Lagerraum. Warum?
Er hielt inne und überlegte. Viel hatte er sich bisher noch nicht angeschaut. Er hatte zwar mit den beiden Gästen, dem Flieger und diesem Berlioz, einen Blick in den Laderaum werfen können, aber einfach nicht genug Zeit gehabt, um genauer hinzuschauen.
Er musste unbedingt mit einem der Männer sprechen, die dort arbeiteten. Er ergänzte auf seiner Liste den Punkt »Lagerarbeiter finden und befragen«. Vielleicht konnte er ja vor dem gemeinsamen Dinner noch ein wenig mehr herausfinden und zumindest ein paar Kontakte mit der Crew schließen.
Er biss wieder auf den inzwischen arg zerkauten Bleistift und versuchte, sich den Aufbau des Luftschiffs vor Augen zu rufen: Er war auf dem Passagierdeck ganz oben, darunter lagen die Waschräume und Duschen und wenn er sich richtig erinnerte, auch die Räume der Crew. Zumindest die Jungs in der Küche müssten ja an Bord sein, dachte er und spürte, wie in ihm die Begeisterung erwachte, die er immer verspürte, sobald er einer guten Geschichte auf der Spur war.
Ja, dachte er, so mache ich es. Beim Dinner werde ich einen genaueren Blick auf meine Mitreisenden werfen. Dann schlendere ich unauffällig runter in die Küche und schließe ein paar Freundschaften. Er nickte zufrieden.
Und wenn alle Stricke reißen, kann ich dem Chef immer noch einen Artikel über das »Geisterschiff« schreiben. Das sollte schon an sich sensationell genug werden.
Da klopfte es an der Tür. Ben öffnete und sah den ersten Offizier Miller. Miller sah zu beiden Seiten, bevor er sich zu Ben vorbeugte und flüsterte: »Wenn Sie was über den Kapitän wissen wollen, treffen wir uns in einer halben Stunde an den Wassertanks im Lagerraum!«
Und schon eilte Miller davon, als sei nichts gewesen.
Ben schaute ihm hinterher, bis er um die Ecke verschwunden war. Niemand sonst war im Flur zu sehen.
Grinsend schloss Ben die Tür. Das ließ sich ja hervorragend an. Er salutierte seinem Spiegelbild voller Vorfreude: »Das hier wird deine große Story!«
Becky hoffte aus ganzem Herzen, dass Quebec recht haben würde. Die Zusammensetzung der Gästeliste sah allerdings eher nach einem grandiosen Desaster für sie und Miro aus. Vor allem wenn man bedachte, dass es viel zu lange keinen Alkohol geben würde, um das Ganze etwas abzumildern.
Madame Silva schritt raschelnd durch den Speisesaal zum Fenster. »Und der Ausblick. Ich bin überwältigt. So viel positive Energie, meine Güte ...«
Während das Medium weiterhin ihre Begeisterung mit ihrer sehr lauten Stimme ausdrückte, steuerte der Kapitän sie entschlossen zu einem der Stühle und zog ihn heran. »Madame Silva, machen Sie mir die Ehre und setzen Sie sich doch heute Abend neben mich.«
Das Medium zeigte sich begeistert. »Wie wunderprächtig. Gräfin von Brauntroet finden Sie die Schwingungen hier nicht auch fantastisch?«
»Nun, ich denke, sie sind recht gut.« Die Gräfin zog ihre Mundwinkel ein wenig nach oben, was vermutlich ein Lächeln darstellen sollte. »Ist das Arrangement, dass Bleibtreu für Sie organisiert hat, zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Oh ja, nahezu ideal – Kapitän, ich muss einfach eine Séance durchführen, sobald wir in der Luft sind. Dem Äther so nah und nicht gestört durch erdgebundene Energien ...«
Annett sah begeistert auf. »Oh, würden Sie das tun? Ich habe schon so viel von Ihren Erfolgen gelesen. Ich würde sterben, um einmal selbst dabei zu sein!«
»Meine Liebe, vielen Dank. Aber sagen Sie so etwas nicht. Man weiß nie, was solch unvorsichtige Äußerungen, in unbedachten Momenten getan, auslösen können. Aber natürlich werde ich eine Séance durchführen, wenn unser Kapitän das erlaubt und selbstverständlich müssen Sie teilnehmen!«
Kapitän Smith nickte zustimmend. »Es wäre mir eine Ehre, Madame. Ich bin ebenfalls ein großer Bewunderer.«
Während der Kapitän wortreich seine Faszination für das Überirdische schilderte, blickte Annett bewundernd zu Madame Silva hinüber. Dann sagte sie zu Miro und Becky gewandt leise: »Ich habe im Chronicle von ihr gelesen. Sie ist mehr als nur ein Medium, sie ist eine echte Forscherin im Reich der Geister, eine Wanderin des Äthers und eine Mittlerin zwischen dem Dies- und Jenseits. Sie hat schon vielen Familien geholfen. Erst vor kurzem hat sie einen Kontakt mit dem Geist von Jethro Carn hergestellt, damit seine Witwe sich verabschieden kann. Sie hat geweint, als er ihr ein letztes Mal seine Liebe erklärt hat.«
»Hm«, brummte Miro. »Ich bin mir sicher, dass sie eher geweint hat, weil sie im Testament nicht weiter bedacht war.« Die Sängerin sah ihn ob dieses Kommentars erschrocken an.
»Annett, lassen Sie sich von meinem Mann nicht verunsichern«, sagte Becky daraufhin resolut, zwinkerte ihm aber zu. »Er hat allerdings damit recht, dass viele Medien einfache Schwindler sind, die die Trauer der Menschen.«
» ... und deren Gier …« unterbrach Miro sie.
»... ausnutzen wollen. Sie haben doch sicherlich schon von Herrn Houdini gehört?«
Annett runzelte ihre Stirn. »Dem Entfesselungskünstler?«
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