Gleich darauf hörte Totty andere Schritte, lugte vorsichtig um die Ecke und bemerkte eine junge Dame. Zu seinem höchsten Erstaunen erkannte er Isla Crane, die er in Marks Priory kennengelernt hatte.
Sie trug einen langen Mantel und einen kleinen schwarzen Hut, den sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Aber Totty vergaß kaum einen Menschen, den er einmal gesehen hatte. Sie war ein wenig bleich und machte einen nervösen Eindruck.
Sie schaute nach links und nach rechts und ging schon auf die Tür der Portierloge zu, aber gerade noch rechtzeitig kam der Fahrstuhl herunter, und Bould trat auf sie zu.
»Sie wünschen doch Dr. Amersham zu sprechen?«
»Ja, bitte«, erwiderte sie leise.
Totty wartete, bis Bould zurückkehrte.
»Das ist sie«, sagte der Portier. »Sie sieht gut aus, nicht wahr? Aber alle Mädels, die herkommen, haben ein hübsches Gesicht. Wenn das meine Tochter wäre –«
Er machte ein grimmiges Gesicht. Totty entgegnete nichts darauf, denn Islas Besuch bei Dr. Amersham erschien ihm nicht so sonderbar. Sie war die Sekretärin Lady Lebanons und brachte dem Arzt vielleicht eine Botschaft von ihrer Herrin. Ihr bleiches Gesicht und ihr nervöses Verhalten paßten allerdings wenig zu dieser Theorie.
»Ist es nicht möglich, daß ich in die Wohnung schauen könnte?« fragte Totty plötzlich.
Mr. Bould wurde ernst.
Als alter Polizist fand er es selbstverständlich, daß der Sergeant mit einem Nachschlüssel in die Wohnung eindringen oder sich wenigstens in der leeren Wohnung neben den Räumen von Dr. Amersham aufhalten durfte. Von dort aus konnte Totty auf den gemeinsamen Balkon hinaustreten, der auch an der Wohnung des Arztes entlangführte. Nur ein eisernes Gitter, über das man leicht hinüberklettern konnte, trennte den Balkon in zwei Abteilungen.
Aber jetzt war Bould hier Portier und hatte über die Hausbewohner zu wachen. Dafür erhielt er doch sein Gehalt. Er konnte seine Stellung verlieren, wenn er sich etwas zuschulden kommen ließ.
»Ich weiß nicht recht, Sergeant, ob das geht«, sagte er und kratzte sich das Kinn.
Totty redete jedoch einige Zeit auf ihn ein, und schließlich fuhren sie beide mit dem Fahrstuhl hinauf.
*
Kaum hatte Isla Crane geklingelt, als sich die Wohnungstür des Doktors auch schon öffnete.
»Ach, treten Sie doch näher, Miss Crane.«
Dr. Amersham war in der besten Laune, sprach väterlich zu ihr und war viel freundlicher, als er sich jemals in Gegenwart von Lady Lebanon gezeigt hatte.
»Es ist außerordentlich liebenswürdig, daß Sie gekommen sind. Wollen Sie nicht ablegen?«
Aber Isla war nicht gekommen, um sich unterhalten zu lassen.
»Nein, danke. Ich kann nur ein paar Minuten bleiben. Woher wußten Sie eigentlich, daß ich in der Stadt bin?«
Amersham lächelte, als er sie ins Wohnzimmer führte.
»Ich habe mit Mylady telefoniert, und sie sagte mir, daß Sie in London waren. Sie haben doch den Abend noch frei? Hoffentlich habe ich Ihr Programm nicht verdorben. Es ist überhaupt unverantwortlich, daß Sie soviel Zeit in dem düsteren Herrenhaus von Marks Priory zubringen müssen.«
»Ich fahre morgen früh nach Stevenage, um meine Mutter zu besuchen«, entgegnete sie kurz.
Er schob ihr einen Sessel hin, aber sie setzte sich nicht.
»Lady Lebanon nannte mir das Hotel, in dem Sie logieren, und es war ein glücklicher Zufall, daß ich Sie traf, bevor Sie ausgingen.«
»Was wollen Sie denn von mir?«
Der Ton ihrer Stimme klang durchaus nicht liebenswürdig.
»Ich wollte hier keinen Freundschaftsbesuch machen«, erklärte sie kühl, als er sich vorwurfsvoll über ihr ablehnendes Wesen äußerte. »Wenn Sie mir nicht gesagt hätten, Sie wollten mich dringend wegen Lady Lebanon sprechen, wäre ich überhaupt nicht gekommen.«
»Aber Isla, wie kann man nur so abweisend und kalt sein! Darf ich Ihnen jetzt Ihren Mantel abnehmen?«
Sie trat einen Schritt zurück.
»Warum wollten Sie mich sprechen?«
Es fiel ihm außerordentlich schwer, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen.
»Willie Lebanon will Sie heiraten, ist Ihnen das bekannt?«
Sie antwortete nicht darauf.
»Was sagen Sie denn dazu? Sie werden Gräfin Lebanon werden und haben dann den Vortritt vor allen Baroninnen und Angehörigen des niederen Adels. Übrigens brauchen Sie Mylady nicht zu erzählen, daß ich Sie zu mir gebeten habe.«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.
»Warum denn nicht, wenn es sie doch angeht?«
»Es geht sie und mich etwas an – Ihre voraussichtliche Heirat. Es wäre wirklich sehr gut für Sie, Isla. Der junge Lord wird Ihnen sofort einen Teil seines Vermögens überschreiben, vielmehr Lady Lebanon wird das tun. Ihnen scheint aber der Plan nicht zu gefallen?«
»Lady Lebanon hat mir das auch angedeutet, aber ich möchte mich nicht verheiraten. Das habe ich ihr auch klar gesagt.«
Er lachte.
»Ich glaube aber, sie hat sich aus Ihrer Absage nicht viel gemacht. Lady Lebanon ist eine Natur, die sich überall durchsetzt. Man kann sich ihr kaum entgegenstellen, wenn sie ihren Willen durchführen will.«
Er war enttäuscht, daß sie nicht antwortete, und wurde nervös. »Warum ziehen Sie nur Ihren Mantel nicht aus? Wir beide sollten doch zusammenhalten. Lady Lebanon betrachtet uns wie ein paar bessere Dienstboten. Wir bekommen unser Gehalt und müssen unsere wahren Gefühle verbergen –«
»Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« fragte sie eisig. »Wenn nicht, dann gehe ich jetzt.«
Sie wandte sich halb um, aber bevor sie ahnte, was geschehen würde, riß er sie an sich. Er hielt sie so fest, daß sie sich nicht wehren konnte. Sie fühlte seinen Schnurrbart an ihrer Wange, und seine Augen blitzten so unheimlich, daß sie erschrak.
»Isla, niemand in der Welt kann sich mit dir vergleichen«, stieß er atemlos hervor. »Ich möchte dein Freund sein, ich will dir helfen.«
»Lassen Sie mich einen Augenblick los«, sagte sie mit erzwungener Ruhe.
Er ließ sich täuschen. Kaum hatte er den Griff etwas gelockert, als sie sich plötzlich von ihm frei machte, zu der Wand eilte und den Daumen auf einen kleinen Knopf legte, der unauffällig an der Wand angebracht war.
»Machen Sie bitte die Tür auf und gehen Sie dann in das andere Zimmer.«
Amersham atmete schnell. Er sagte nichts; er wußte, daß er im Augenblick geschlagen war. Wütend riß er die Zimmertür auf, trat in den Vorraum und schloß die Wohnungstür auf.
»Sie können gehen. Es war töricht von mir, daß ich Ihnen helfen wollte.«
Sie zeigte auf die andere Tür am Ende des Wohnzimmers.
»Aber machen Sie doch nicht solche Geschichten. Sie sind vollkommen sicher –«
»Ich bin so lange sicher, wie ich den Daumen auf dem Knopf für Feueralarm habe«, entgegnete sie ruhig. »Und Sie wollen sich doch wohl nicht blamieren? Sie würden eine lächerliche Figur machen, wenn die Feuerwehr hierherkommt!«
Auf dem Balkon stand Sergeant Totty im Dunkeln und nickte befriedigt.
Er sah, daß sich die Wohnungstür hinter Isla schloß, und beobachtete dann die Rückkehr des Doktors in das Wohnzimmer.
»Großartig«, murmelte Sergeant Totty beifällig.
Einige Zeit ging Amersham nervös auf und ab. Dann hörte Totty, daß das Telefon klingelte. Amersham ging zum Apparat und nahm den Hörer ab. Gleich darauf runzelte er ärgerlich die Stirn, sagte etwas, was Totty nicht verstehen konnte, drehte das Licht aus und ging ins Schlafzimmer.
Totty schlich sich auf dem Balkon entlang; die Vorhänge waren von innen vorgezogen, aber es gelang ihm doch, durch einen Spalt an der Seite zu sehen. Auf diese Weise konnte er den Bewegungen Amershams folgen, der eine Schublade aufzog, einen Gegenstand herausnahm und in die Tasche steckte. Was es war, konnte Totty nicht erkennen, aber er vermutete, daß es sich um einen Browning handelte.
Читать дальше