»Wenn jemand krank wird, wollen wir lieber Doktor Granitt holen«, sagte sie. »Hast du wirklich kein Geld für mich, Vater?«
»Ich habe nur ein paar Schilling.« Er zog eine Handvoll Silbergeld aus der Tasche. »Die brauche ich selbst«, fügte er hastig hinzu. »Ich bekomme aber heute meinen Scheck von dem Kunsthändler. Ich kann gar nicht begreifen, warum, er heute morgen mit der Post noch nicht gekommen ist. Diese Leute sind doch zu unzuverlässige Menschen.«
»Der Scheck kam schon vorige Woche«, entgegnete Stella ruhig. »Du hast dem Mädchen den Brief gleich draußen abgenommen und ihr gesagt, sie möchte mir nichts davon erzählen. Das hat sie mir gestern unter vielen anderen Dingen auch mitgeteilt.«
Er seufzte wieder.
»Ich bin ein Verschwender, ich bin ganz und gar verkommen«, klagte er sich an. »Ich bin schuld an dem Tod deiner armen Mutter, ich habe sie ins Grab gebracht – du weißt, daß ich daran schuld bin, Stella.«
In solchen Augenblicken fand er ein wahres Vergnügen darin, sich selbst zu beschuldigen. Daß seine Tochter sich dadurch verletzt fühlen könnte, kam ihm gar nicht zum Bewußtsein. Er empfand eine solche Befriedigung dabei, daß er sich unmöglich vorstellen konnte, andere seien unfähig, dieses Vergnügen zu teilen.
»Sage doch das nicht«, sagte sie beinahe schroff. Sie kam aber sofort wieder auf die Geldfrage zurück. »Vater, ich brauche Geld. Die Mädchen wollen den restlichen Lohn, ich habe versprochen, ihnen das Geld in die Stadt zu schicken.«
Er hatte sich in seinem Sessel zusammengekauert und brütete vor sich hin.
»Ich werde heute mit dem Bild anfangen – mit dem Pygmalion. Es wird allerdings einige Zeit dauern, bis ich damit fertig bin und das Geld dafür bekomme. Diese verfluchten Händler –«
Schon vor drei Jahren hatte er den Pygmalion zu malen begonnen, aber seitdem war er nicht wieder in Stimmung gekommen. Stella hatte es aufgegeben, Modelle für ihn zu engagieren. Sie nahm das Versprechen, das große Bild beenden zu wollen, mit derselben Gleichgültigkeit hin, die sie bei seiner Reue gezeigt hatte.
Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. Er lehnte sich zu ihr über den Tisch hinüber.
»Stella«, sagte er leise, »könntest du nicht etwas Geld bekommen – erinnerst du dich an die Summe, die du damals aufgetrieben hast, als mich dieser üble Marmeladenfabrikant wegen der Anzahlung verklagte, die er auf das Porträt gemacht hatte? Diese dummen Spießer glauben immer, man könnte ein Bild auf Befehl malen. Ich bin nie ein Kaufmann gewesen. Ich will ja die Kunst nicht in den Himmel heben, aber Kunst ist der Inhalt des Lebens, für mich wenigstens.«
Er schaute sie erwartungsvoll, beinahe bittend an, aber sie schüttelte entschlossen den Kopf.
»Auf diese Weise kann ich kein Geld mehr beschaffen. Lieber würde ich sterben. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Vater.«
Plötzlich erhob sie sich, ging verzweifelt im Zimmer auf und ab und blieb schließlich vor ihrem eigenen, halbvollendeten Porträt stehen, das er begonnen hatte, als sie drei Jahre jünger war.
»Das wäre eigentlich ein Bild, das man fertigmachen sollte«, sagte er. »Ich bin jetzt gerade in der Stimmung dazu, ich könnte mich auf die Arbeit konzentrieren.«
Als sie aber später in das Atelier kam, sah sie, wie er andere angefangene Bilder betrachtete.
»Ein paar Wochen Arbeit an diesem Bild, Stella, und bei Gott, es könnte etwas daraus werden. Durch ein solches Bild bin ich damals in die Akademie aufgenommen worden!«
»Warum fängst du denn nicht einmal wirklich an, Vater? Zieh deinen Arbeitskittel an und beginne gleich.«
»Ach, das eilt doch nicht so sehr! Wir haben noch viel Zeit«, erwiderte er leichtfertig. »Ich will einmal sehen, ob ich nicht den Trainer finde. Eine Runde Golf würde mich jetzt richtig auf die Höhe bringen.«
Später sah sie, wie er mit dem Trainer zum Golfplatz ging; ein Junge trug ihnen die Geräte nach. Nelson schien alle Sorgen vergessen zu haben, weder an morgen zu denken, noch sein Betragen von gestern zu bedauern.
Als er zu Tisch zurückkam, war er in glänzender Stimmung, und sie wußte, daß alle guten Vorsätze längst vergessen waren.
»Es ist immer von Nutzen, wenn man weiß, wann man aufhören muß, Stella. Das ist eben der Unterschied zwischen einem Mann und einem Narren. Ich weiß immer, wann ich genug habe. Ich bin ein Künstler, und daher kommen all die Unannehmlichkeiten. Meine Phantasie schwelgt in rosigen Träumen, dann trinke ich rein mechanisch, ohne überhaupt zu wissen, daß ich etwas zu mir nehme.« Er lachte vergnügt und kniff sie in die Wange. »Mache dir nur keine Sorge, in einer Woche ist der Pygmalion fertig. Du denkst natürlich wieder, daß es nur ein leeres Versprechen ist, aber ich kann dir nur sagen, mein Liebling, als ich ein junger Mann war und das große Gemälde schuf, dem ich meinen Namen verdanke – Sokrates, den Schierlingsbecher trinkend –, da habe ich am Sonntagmorgen angefangen und am Dienstagabend war das riesengroße Bild fertig. Ich habe allerdings später noch einige Lichter aufgesetzt.«
»Hast du im Klub etwas getrunken, Vater?«
Der Klub war ein kleines Gebäude am Ende der Straße. Es war wohl der Golfklub mit der geringsten Mitgliederzahl der Welt.
»Ach, nur einen Whisky Soda«, erwiderte er leichthin.
Kenneth Nelson hatte, wie viele Neurotiker, die Gewohnheit, alle Gedanken zu unterdrücken, die ihm nicht angenehm waren. Er konnte alles aus seinem Denken ausschalten, was ihm mißfiel, alle Erinnerungen, deren er sich schämen mußte. Er betrachtete das als eine große Begabung. Er liebte es, weise Aussprüche zu gebrauchen, und er brachte sie stets so vor, als ob sie von ihm selbst stammten.
»Nebenbei bemerkt, Stella, wir haben Besuch im Gästehaus. Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit!« Er lachte. »Bellingham war ein Dieb, ein Einbrecher! Bei Gott, ich hätte nicht ruhig schlafen können, wenn ich das gewußt hätte.«
Stella überlegte, was Scottie wohl zu einem Einbruch in dieses Haus hätte veranlassen sollen, wenn er nicht unvollendete Bilder stehlen wollte.
Noch bevor ihr Vater weitersprach, wußte sie, was er sagen würde.
»Der Detektiv wohnt dort?« fragte sie schnell.
»Ja, er hält sich ein paar Tage hier auf – ein sehr interessanter Mann, äußerst liebenswürdig. Er ist gewissermaßen ein Gast Mr. Merrivans. Du weißt doch, daß der immer die sonderbarsten Leute aufgreift, gewöhnlich sind es ganz unmögliche Menschen. Aber diesmal hat er Glück gehabt. Dieser Detektiv – Andrew wie zum Teufel heißt er doch sonst noch – es ist ein schottischer Name – ich kann all diese Macs nicht auseinderhalten.«
»Macleod.«
»Ja, Andrew Macleod, so heißt er. Das ist derselbe, der hierhergeschickt wurde, um den Einbrecher zu verhaften. Das hat er auch tatsächlich sehr fein gemacht. Er ist ein ausgezeichneter Beamter. Es ist ungewöhnlich, einen Detektiv zu finden, der zugleich auch Gentleman ist. Würdest du nicht auch gern seine Bekanntschaft machen? Er würde dich sicher interessieren.«
»Nein«, sagte sie so schnell, daß er sie überrascht anschaute. »Ich interessiere mich wirklich nicht für ihn, und außerdem habe ich ihn ja schon gestern auf dem Postamt gesehen – er gefällt mir nicht.«
Mr. Nelson gähnte und schaute auf die Uhr.
»Ich muß jetzt gehen, ich habe Pearson versprochen, zu einer Bridgepartie zu kommen. Würdest du nicht zum Tee nachkommen?«
Sie ärgerte ihn nicht mehr durch unangenehme Fragen nach dem unvollendeten Pygmalion. Vor drei Jahren, als sie aus dem Pensionat gekommen war, wäre sie erstaunt gewesen, daß er seine guten Absichten so schnell vergessen konnte. Sie hätte ihm dann zugeredet, den Nachmittag im Atelier zu bleiben, und er hätte ihr geantwortet, daß er am nächsten Morgen ganz früh aufstehen werde, um einen guten Anfang zu machen. Und wenn sie ihn heute gebeten hätte, zu Hause zu arbeiten, hätte sie wahrscheinlich dieselbe Antwort bekommen. Also ließ sie den Dingen ihren Lauf. Ihr krampfhaftes Bemühen, dem Schicksal zu entkommen, war nutzlos – es ließ sich nicht mehr aufhalten.
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