Alfred Lehmann brühte einen Tee in der kleinen Küche auf und stellte zwei Tassen, die Zuckerdose und eine weitere Tasse halbvoll mit Trockenmilch auf den kleinen Esstisch. Er legte zwei Blech-Teelöffel dazu und füllte die Tassen. Kurt fragte den Vater nach seinem Rücken, und der Vater erzählte, dass er beim Arzt gewesen sei, der meinte, dass an der Wirbelsäule nichts mehr zu machen sei. “Hat dich denn der Arzt untersucht?”, fragte Kurt. Vater: “Welcher Arzt untersucht in dieser Republik schon einen Rentner?” Kurt: “Das verstehe ich nicht.” Vater: “Der war angeblich beschäftigt. So richtete ich der Sprechstundenhilfe aus, sie soll den Arzt fragen, ob wegen der zunehmenden Schmerzen neue Röntgenaufnahmen gemacht werden sollten, weil die alten Aufnahmen mehr als zwei Jahre zurückliegen, und ob er mich zu einem Spezialisten überweisen würde.” Kurt: “Und…” Vater: “Ich wartete eine längere Zeit im leeren Wartezimmer auf das Rezept für die Schmerztabletten. Die Sprechstundenhilfe kam aus dem Arztzimmer zurück und setzte sich hinter ihren schmalen Tisch und rief mich aus dem Wartezimmer mit den Worten: ‘Hier ist ihr Rezept.’ Dann sagte sie, dass sie dem Arzt meine Fragen weitergegeben habe, der meinte, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, da an meiner Wirbelsäule mit einem Wunder nicht zu rechnen sei. Ich solle die Schmerzen mit den Tabletten unter Kontrolle halten. Von einem Spezialisten hielt der Arzt nichts, jedenfalls sagte die Sprechstundenhilfe kein Wort, als sie mir das Rezept mit einem ausdruckslosen Gesicht und den Worten gab, dass sie mehr für mich nicht tun könne.” Kurt schwieg mit einem bekümmerten Gesicht. Er legte dem Vater ein paar Banknoten auf den Tisch und stand auf, ohne die Tasse leer getrunken zu haben. Alfred Lehmann sah vom kleinen Esstisch im Wohnzimmer zu, wie Kurt im engen Flur den Kapitänsmantel mit den Worten anzog: “Das ist schon eine Sauerei. Eine Moral gibt es wohl bei den Ärzten auch nicht mehr.”
Die Schmerztabletten halfen immer weniger, obwohl Alfred Lehmann schon die doppelte Dosis schluckte. Immer häufiger blieben die Nächte schlaflos, teils wegen der Gedanken an die zerfallende Republik mit dem Untergang der sozialistischen ‘Sonne’, teils wegen der apokalyptischen Träume, die sich dem Gedankenwirrwarr anschlossen und pharmakologisch durch die Tabletten weiter ‘angefeuert’ wurden und dann ausuferten, wenn sie ihn in ein brüllend-schäumendes Meer der Ausweglosigkeit in den Abgrund rissen, oder durch die Rückenschmerzen, die ihn dermaßen verspannten, dass er mit dem Gefühl in Stücke gerissen zu werden, hilflos und schweißgebadet im Bett lag und auf ein Ende der Schmerzen wartete. Die Schmerzen wurden so stark und seine Widerstandskraft so schwach, dass er an den Alkohol dachte, dem er sich, seitdem er geschieden war, so gut wie ganz entzogen hatte, weil der Alkohol ein Grund für das familiäre Desaster gewesen war.
Es war etwa ein Monat nach dem letzten Besuch seines Sohnes Kurt, dass Alfred Lehmann die schmale Treppe mit den muldig ausgetretenen Holzplanken herunterstürzte und sich nicht mehr bewegen konnte, obwohl sein Bewusstsein noch funktionierte, abgesehen von den Prellmarken an Kopf und anderen Körperteilen. Querschnittsgelähmt wurde er mit dem Notarztwagen in das nächste Krankenhaus gebracht, wo die Ärzte die komplette Lähmung beider Beine diagnostizierten, deren Ursache mehrere Wirbelbrüche waren, die das Rückenmark eingequetscht hatten. Metastasen eines bösartigen Tumors hatten die Wirbelsäule durchsetzt, die auch die Ursache für die rapide Zunahme der Rückenschmerzen waren. Während sich draußen der Aufbruch mit den Friedensmärschen formierte, lag Alfred Lehmann gelähmt im Krankenhaus und bekam das Ende der Republik, auf die er so große Hoffnungen gesetzt hatte, nicht mehr mit.
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