Volker Schmitz - MITTELSCHICHT FÜR ALLE

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Vor der Digitalisierung gibt es kein Entkommen. Verschwindet die Arbeit, spaltet sich die Mittelschicht in Digitalisierungsgewinner und eine Masse von Verlierern. Und die benötigt einen neuen Sozialstaat. Genug Geld wird da sein, dank Robotern und künstlicher Intelligenz. Doch auf die Solidarität der zukünftigen Eliten ist kein Verlass. Für die Mittelschicht eine historische Herausforderung: Sie muss für sich und ihre Kinder die Teilhabe am Wohlstand und Fortschritt sichern, während ihre wirtschaftliche Bedeutung sinkt. Solange sie sich liberale Demokratie und Rechtsstaat nicht aus den Händen nehmen lässt, wird sie auch künftig ein freies Leben genießen – in Wohlstand ohne oder in Reichtum mit Arbeit.

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Mittelschicht für alle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.

Copyright © CapQM GmbH, Hamburg 2019

CapQM GmbH

Baumwall 7

20459 Hamburg

www.capqm.com

Inhalt

Einleitung

1. Der Weg in die digitale Massenarbeitslosigkeit

2. Von der Kooperation zur Alimentation

3. Wenn die Arbeit nicht mehr zu retten ist

4. Mit Bildung den Abstieg hinausschieben

5. Endstation Bodensatzwirtschaft

6. Der digitale Sozialstaat: Inklusion ohne Arbeit?

7. Geld ist vorhanden

8. Die Eliten arbeiten lassen

9. Demokratie: nicht verwässern, sondern verteidigen!

10. Transformation statt Apokalypse: die Zukunft der Mittelschicht

Über den Autor

Anmerkungen

Einleitung

Ein Menschenaffe nimmt einen Knochen und schleudert ihn triumphierend in die Luft. Dort verwandelt er sich plötzlich in ein Raumschiff. Diese Filmszene ist die wohl kürzeste Zusammenfassung der gesamten menschlichen Technologiegeschichte. 1Sie entstammt dem Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“. Gedreht wurde er 1968. Der Fortschrittsglaube der westlichen Industriegesellschaften war noch ungebrochen, Wachstum, Vollbeschäftigung und immer neue Konsumgüter galten als selbstverständlich. Doch der Regisseur Stanley Kubrick spielt im Verlauf des Films schon mit unseren heutigen Ängsten. HAL, der Steuerungsroboter des Raumschiffs, schwingt sich zu dessen Herrscher auf und der letzte Astronaut muss mit ihm um sein Leben kämpfen.

Inzwischen haben wir das Jahr 2001 längst hinter uns gelassen, um unser Leben müssen wir noch immer nicht fürchten. Aber die Angst vor den Robotern und der künstlichen Intelligenz wächst. Täglich übernehmen sie mehr Funktionen auf dem Raumschiff Erde. Nicht unsere physische Existenz ist in Gefahr, aber unser soziales Leben. Die Digitalisierung verdrängt die menschliche Intelligenz, menschliche Entscheidungsbefugnis und, gesellschaftlich am brisantesten, die tägliche Arbeit. Wenn immer mehr Arbeitsplätze verloren gehen ohne das gute neue entstehen, zerbricht eine uralte Regel menschlicher Gesellschaften: der Zusammenhang zwischen Jagen und Teilen durch die Kooperation innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Schon heute findet die Mehrheit der Bevölkerung die Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne ungerecht. 2Die Digitalisierung wird dieses Gefühl auf die Spitze treiben. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat 2018 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor der versammelten globalen Elite die Themen Digitalisierung und Verteilung als die größte Herausforderung bezeichnet. 3Völlig zu Recht. Genau an diesem Punkt setzt das Buch an. Es handelt von Digitalisierung und Verteilung, vor allem von der Verteilung durch die Digitalisierung. Die Wirkung der neuen Technologien auf die Einkommensverteilung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die jetzt arbeitende Generation und ihre Kinder stehen in seinem Mittelpunkt . Es greift die aktuelle Zukunftsangst der westlichen Mittelschicht auf, die fürchtet, dass die Digitalisierung die wirtschaftliche Ungleichheit weiter verschärft, ihre Arbeit verschwinden lässt und ihren sozialen Abstieg zementiert.

Dabei geht es nicht um eine weitere Utopie oder Dystopie. Der schnelle technologische Fortschritt der vergangenen Jahre hat das Thema aus dem Bereich der Science-Fiction zu den Trendforschern, Philosophen und sogar zu futuristisch gewandelten Historikern gespült. In deren weit ausgreifenden Zukunftsszenarien sind wir irgendwann alle nachhaltig 4 oder nutzlos, beherrscht von Algorithmen und biotechnologisch optimierten Übermenschen. 5Dazwischen liegt ein großer, allerdings bisher mit wenig futuristischer und sozialer Fantasie ausgefüllter Raum. Manche mögen dies für weitgehend irrelevant halten, da wir nach dem Anthropozän ohnehin von der Weltbühne abtreten. Doch die heutige Generation und ihre Kinder, die sich innerhalb der nächsten 50 Jahre mit der politischen Gestaltung der Digitalisierung auseinandersetzen müssen, werden mit weit praktischeren Fragen konfrontiert sein. Sie müssen in den Niederungen des Alltags um ihren Anteil am wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt kämpfen. Dieser Kampf, die Fortsetzung des uralten menschlichen Verteilungskampfs, wird sich in der kommenden digitalen Gesellschaft möglicherweise deutlich verschärfen. In den folgenden Kapiteln betrachten wir, mit welchen Mitteln er zukünftig ausgetragen wird. Doch vorher wollen wir einen Blick auf die heutige Ausgangssituation werfen, auf die die Digitalisierung trifft.

Die Geschichte von Neoliberalismus und Globalisierung hat ausgedient

Im Jahr 1944, als der Sieg des freien Westens über den Faschismus absehbar wurde, veröffentlichte Friedrich A. von Hayek, ein Vordenker der neoliberalen Marktwirtschaft, in London seinen prophetischen Bestseller „Der Weg zur Knechtschaft“. 6Er sollte die zukünftigen Siegermächte mahnen, nicht nach Kriegsende den Weg des Sozialismus und der Planwirtschaft zu gehen. Sein Ideal war die freie Marktwirtschaft für freie Menschen, mit so wenig staatlicher Regulierung wie nötig. Doch Hayeks neoliberale Ansicht passte nicht zu den gesellschaftlichen Herausforderungen der Nachkriegszeit. Im demokratischen Teil Europas hielt der Staat seine schützende Hand über die Bevölkerungen der vom Krieg zerstörten Länder. Die Sozialstaaten expandierten, die Schlüsselbranchen der Wirtschaft blieben öffentliches Eigentum. Das Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre sorgte dafür, dass die Massen konsumieren konnten und die Einkommen breit verteilt wurden. Der Neoliberalismus blieb eine „kleine fundamentalistische Sekte“ 7.

Doch dann kam seine historische Chance. Die Ölstaaten forderten einen Teil vom westlichen Wohlstand, das Wirtschaftswachstum verebbte, die Geldentwertung nahm zu. Die westliche Wirtschaft befand sich im Krisenmodus, die herrschende Wirtschaftstheorie hatte weder Erklärung noch Lösung. 1974 erhielt Hayek den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, der Neoliberalismus wurde damit hoffähig. Konservative Politiker wie der US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher übernahmen in den 1980er Jahren seine Rezepte, um die Krise zu überwinden. Zusammengefasst in dem berühmten Motto „so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“ 8wurde der Markt zum zentralen Lösungsmechanismus für fast alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Die Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert, öffentliche Unternehmen privatisiert, die Finanzmärkte dereguliert.

Innerhalb des Westens wurden die Sozialstaaten kräftig umgestaltet. Nicht nur von den Konservativen. Die US-Demokraten unter Bill Clinton, New Labour in Großbritannien unter Tony Blair und die Sozialdemokraten in Deutschland unter Kanzler Schröder setzten die Sozialstaatsreform in abgemilderter Form fort. Sie war angeblich alternativlos und wer anders dachte, konnte sich vom Internationalen Währungsfonds, der OECD und der EU eines Besseren belehren lassen.

Hayek, gestorben 1992, hat den beginnenden Siegeszug des Neoliberalismus gerade noch miterlebt. Dessen Vertrauenskrise nicht mehr. 2008 brach die US-Bank Lehman Brothers zusammen, der symbolische Startschuss für die weltweite Finanzkrise. Bald darauf folgte die Eurokrise, Griechenland hing jahrelang am Tropf der westlichen Geldgeber. 2013 veröffentlichte der französische Ökonom Thomas Piketty sein Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ und brachte die seit Jahren steigende Einkommensungleichheit auf die politische Agenda.

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