»War es denn Fahrlässigkeit?«, fragte ich.
»Nehmen Sie es, wie Sie wollen. Tatsache ist, dass ein Mann müde wird, wenn er stundenlang gearbeitet hat.«
Der Mann begann mich zu interessieren. Er stammte zweifellos aus einer höheren Klasse.
»Sie sind gebildeter als die Arbeiter im allgemeinen«, sagte ich.
»Ich habe das Gymnasium besucht«, erwiderte er. »Das ermöglichte ich, indem ich mich als Pförtner anstellen ließ. Ich wollte auf die Universität gehen. Aber mein Vater starb, und ich musste in die Spinnerei. Ich wollte Naturwissenschaft studieren«, erklärte er schüchtern, als gestände er eine Schwäche ein. »Ich liebe Tiere, aber ich musste in die Spinnerei. Als ich zum Werkführer aufrückte, verheiratete ich mich, und dann kam die Familie und - nun ja, da war ich eben nicht mehr mein eigener Herr.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich.
»Ich wollte Ihnen gerade erklären, warum ich vor Gericht aussagte, wie ich es tat - ich folgte Instruktionen.«
»Wessen Instruktionen?«
»Ingrams. Er schrieb mir die Aussage, die ich zu machen hatte, vor.«
»Und darum verlor Jackson seinen Prozess?«
Er nickte, und das Blut stieg ihm dunkel ins Gesicht.
»Und Jackson hat eine Frau und zwei Kinder zu ernähren.«
»Ich weiß«, sagte er ruhig, aber sein Gesicht färbte sich noch dunkler.
»Sagen Sie mir«, fuhr ich fort, »wurde es Ihnen leicht, aus dem gebildeten Menschen, der Sie waren, zu dem Manne zu werden, der Sie geworden sein müssen, um das fertig zu bringen?«
Ich prallte erschrocken zurück, so unerwartet kam Gefühlsausbruch. Er stieß einen wilden Fluch aus und ballte die Fäuste, als wollte er mich schlagen.
»Verzeihen Sie«, sagte er im nächsten Augenblick. »Nein, es war nicht leicht. Und jetzt wird es am besten sein, wenn Sie gehen. Sie haben alles, was Sie wollten, aus mir herausgebracht. Aber ehe Sie gehen, möchte ich Ihnen noch eines sagen. Es würde Ihnen nichts helfen, wenn Sie etwas von dem, was Sie von mir gehört haben, weitersagen. Ich würde es leugnen, und Sie haben keinen Zeugen. Ich würde jedes Wort leugnen - wenn es sein müsste, unter Eid auf der Zeugenbank.«
Nach der Unterredung mit Smith ging ich in das Bureau meines Vaters im chemischen Laboratorium, und dort traf ich Ernst. Die Begegnung war ganz unerwartet, aber er begrüßte mich mit seinem kühnen Blick und seinem festen Händedruck und mit dieser eigentümlichen Mischung von Verlegenheit und Ungezwungenheit. Es schien, als hätte er unsere letzte stürmische Begegnung vergessen; aber ich war nicht in der Stimmung, sie zu vergessen.
»Ich habe den Fall Jackson verfolgt«, sagte ich unvermittelt.
Er wartete gespannt, dass ich weitersprechen sollte, aber; ich konnte in seinen Augen die Gewissheit lesen, dass meine Ansichten erschüttert worden seien.
»Man scheint ihm übel mitgespielt zu haben«, gestand ich. »Ich - ich - glaube, dass etwas von seinem Blute von unsern Dachbalken tropft.«
»Natürlich«, antwortete er. »Wenn man gegen Jackson und alle seine Genossen barmherzig gewesen wäre, würde die Dividende nicht so fett sein.«
»Ich werde nie mehr Gefallen an schönen Kleidern finden können«, fügte ich hinzu.
Ich fühlte mich gedemütigt und zerknirscht, und mich durchrieselte es süß, dass Ernst eine Art Beichtvater für mich war. Dann, wie später immer, stützte mich seine Kraft. Sie schien eine Verheißung von Schutz und Frieden auszustrahlen. »Und ebenso wenig werden Sie Gefallen an Sackleinen finden können«, sagte er mit Nachdruck. »Sie kennen die Jutespinnereien, dort herrschen dieselben Zustände. Dort wie überall. Unsere viel gepriesene Zivilisation ist auf Blut begründet, mit Blut gesättigt, und weder Sie, noch ich, noch sonst irgendjemand kann es vermeiden, von diesem roten Blut befleckt zu werden. Wer waren die Leute, mit denen Sie sprachen?«
Ich erzählte ihm alles, was vorgefallen war.
»Und nicht einer von ihnen hatte Handlungsfreiheit«, sagte er. »Sie alle sind an die erbarmungslose Industriemaschine gefesselt. Und das Tragische dabei ist, dass sie alle mit ihrem Herzblut daran gefesselt sind. Ihre Kinder - es ist immer das junge Leben, das sie instinktiv schützen. Dieser Instinkt ist stärker als alle Ethik in ihnen. Mein Vater! Er log, er stahl, er tat alles Mögliche Ehrenrührige, um Brot für mich und meine Geschwister zu schaffen. Er war ein Sklave der Industriemaschine, die ihn zerstampfte, ihn zu Tode hetzte.«
»Aber Sie«, warf ich ein. »Sie sind doch sicher frei in ihrem Handeln.«
»Nicht ganz«, erwiderte er. »Ich bin nicht durch mein Herzblut gefesselt. Ich bin oft dankbar, dass ich keine Kinder habe, und dabei liebe ich Kinder. Und doch würde ich mir keine wünschen, wenn ich verheiratet wäre.«
»Das ist ein schlechter Grundsatz«, rief ich.
»Ich weiß«, sagte er traurig, »aber für mich ist er angebracht. Ich bin Revolutionär, und das ist ein gefährlicher Beruf.«
Ich lachte ungläubig.
»Was würde Ihr Vater tun, wenn ich nachts bei ihm einzubrechen versuchte, um seine Dividenden von den Sierra-Spinnereien zu stehlen?«
»Er schläft mit einem Revolver auf dem Nachttisch neben sich«, antwortete ich. »Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er Sie erschießen.«
»Und wenn ich und ein paar andere anderthalb Millionen Mann (6) in die Häuser aller Wohlhabenden führen würde -es gäbe eine mächtige Schießerei, nicht wahr?«
»Ja, aber das würden Sie nicht tun«, bemerkte ich.
»Eben das will ich tun. Und wir haben die Absicht, nicht nur allen Reichtum in den Häusern zu nehmen, sondern auch sämtliche Quellen dieses Reichtums, alle Bergwerke, Eisenbahnen, Fabriken, Banken und Geschäfte. Das ist die Revolution. Sie ist wirklich gefährlich. Ich fürchte, die Schießerei wird schlimmer werden, als ich mir je erträumen ließ. Aber, wie gesagt, heute ist niemand frei in seinem Handeln. Wir sind alle von den Rädern und Zähnen der Industriemaschine gepackt. Sie haben das dort, wo Sie waren, gesehen, Sie sehen, dass die Männer, mit denen Sie sprachen, es auch waren. Sprechen Sie noch mit einigen ändern. Gehen Sie zu Ingram. Suchen Sie die Reporter und Redakteure auf, die dafür sorgten, dass der Fall Jackson nicht in die Zeitungen kam. Sie werden sehen, dass sie alle Sklaven der Maschine sind.«
Im Verlauf unserer Unterhaltung stellte ich eine einfache Frage nach der Haftpflicht gegenüber den Arbeitern bei Unfällen und erhielt von ihm eine statistische Belehrung.
»Es steht alles in den Büchern«, sagte er. »Alle Fälle sind gesammelt, und es ist unumstößlich, dass die wenigsten Unfälle sich in den Morgenstunden ereignen, dass ihre Zahl aber mit jener Stunde, mit der der Arbeiter körperlich und geistig ermüdet und langsamer wird, rasch anschwillt.«
»Weshalb, meinen Sie, hat Ihr Vater dreimal so viele Chancen für die Sicherheit von Leib und Leben wie ein Arbeiter? Er hat sie. Die Versicherungsgesellschaften (7) wissen es. Ihn kostet eine Unfallversicherung auf tausend Dollar vier Dollar zwanzig jährlich, einen Arbeiter hingegen fünf-zehn Dollar.«
»Und Sie?«, fragte ich, und in diesem Augenblick spürte ich eine mehr als oberflächliche Unruhe in mir.
»Ach, als Revolutionär habe ich etwa achtmal so viel Aussicht wie ein Arbeiter, verletzt oder getötet zu werden«, antwortete er sorglos. »Von einem sehr geübten Chemiker, der mit Explosivstoffen umgeht, verlangt die Unfallversicherung die achtfache Prämie wie von einem Arbeiter. Ich glaube, mich würden sie überhaupt nicht aufnehmen. Warum fragen Sie?«
Ich konnte die Augen nicht aufschlagen und fühlte, wie mir das Blut in heiß in die Wangen stieg. Nicht, weil er meine Unruhe bemerkt haben konnte, sondern weil ich sie selbst, und dazu in seiner Gegenwart, entdeckt hatte.
In diesem Augenblick trat mein Vater ein und machte Anstalten, mit mir fortzugehen. Ernst gab ihm einige Bücher zurück, die er von ihm geliehen hatte, und verabschiedete sich. Aber im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um und sagte: »Wissen Sie, statt dass Sie sich Ihre Seelenruhe stören lassen und ich die des Bischofs störe, sollten Sie lieber Frau Wickson und Frau Pertonwaithe aufsuchen. Ihre Männer sind, wie Sie wissen, die beiden Hauptaktionäre der Spinnerei. Wie alle anderen Menschen, sind auch diese beiden Frauen an die Maschine gefesselt, wenn sie auch obendrauf sitzen.«
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