Der Anwalt war bestürzt und sah mich einen Augenblick zerquält an, und ich empfand Mitleid mit dem armseligen Menschen. Dann begann er zu jammern. Ich glaube, das Jammern war ihm angeboren. Er jammerte über die Zeugenaussagen. Sie wären alle zugunsten der Gegenpartei ausgefallen. Nicht ein einziges Wort zugunsten Jacksons hätte man aus ihnen herausbringen können. Sie hätten gewusst, wo die Butter für ihr Brot zu holen war. Jackson sei ein Dummkopf. Er wäre durch Ingram eingeschüchtert und verwirrt worden. Ingram sei glänzend im Kreuzverhör. Er hätte Jackson veranlasst, nachteilige Antworten zu geben.
»Wie konnten seine Antworten nachteilig sein, wenn er das Recht auf seiner Seite hatte?«, fragte ich.
»Was hat das mit Recht zu tun?«, fragte er zurück. »Sehen Sie alle diese Bücher.« Er wies mit der Hand auf eine Reihe von Bänden an den Wänden seines winzigen Bureaus. »Alles, was ich in ihnen gelesen und studiert habe, hat mich gelehrt, dass Gesetz und Recht zweierlei sind. Fragen Sie jeden Anwalt, den Sie wollen. In der Sonntagsschule lernt man, was Recht ist. Aus diesen Büchern aber lernt man eines: Gesetz.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Jackson im Recht war und doch verurteilt wurde?« forschte ich. »Wollen Sie sagen, dass es keine Gerechtigkeit in Caldwells Gericht gibt?«
Der kleine Anwalt starrte mich einen Augenblick an, dann aber schwand die Energie aus seinen Zügen.
»Ich hatte keine Möglichkeit«, begann er wieder jammernd. »Sie haben Jackson zum Narren gemacht und mich auch. Welche Möglichkeiten hatte ich auch. Ingram ist ein großer Jurist. Wäre er das nicht, würden ihm dann die Sierra-Spinnereien, das Erston Land-Syndicate, die Berkeley Consolidated, die Oakland, San Leandro und Pleasenton Elektrizitätswerke die Führung ihrer Rechtsgeschäfte übertragen haben? Er ist Trustanwalt, und ein Trustanwalt wird nicht umsonst bezahlt (4). Wofür meinen Sie wohl, zahlt die Sierra-Spinnerei allein ihm zwanzigtausend Dollar jährlich? Natürlich, weil er ihnen zwanzigtausend Dollar jährlich wert ist. Ich bin nicht so viel wert. Wäre ich es, so stünde ich nicht abseits, darbte und übernähme Prozesse wie den Jacksons. Was, glauben Sie, hätte ich bekommen, wenn ich den Prozess gewonnen hätte?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten Sie Jackson ausgeplündert«, antwortete ich.
»Selbstverständlich!«, rief er ärgerlich. »Ich muss doch auch leben, nicht wahr (5)?«
»Er hat Frau und Kinder«, tadelte ich ihn.
»Ich auch«, erwiderte er. »Und außer mir kümmert sich kein Mensch in der Welt darum, ob sie darben oder nicht.«
Seine Züge wurden plötzlich weich, er öffnete seine Uhr und zeigte mir die auf die Innenseite des Deckels geklebte Photographie von einer Frau und zwei kleinen Mädchen.
»Das sind sie, sehen Sie sie an. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, schwere Zeiten. Ich hatte gehofft, sie aufs Land schicken zu können, wenn ich Jacksons Prozess gewann. Sie brauchen Landluft, aber ich kann es mir nicht leisten, sie fortzuschicken.«
Als ich mich zum Gehen anschickte, verfiel er wieder in sein Jammern.
»Ich habe nicht die geringsten Aussichten. Ingram und der Richter Caldwell sind befreundet. Ich will nicht sagen, dass diese Freundschaft den Prozess entschieden haben würde, wenn ich im Kreuzverhör die Zeugen zu den richtigen Aussagen bekommen hätte. Aber Caldwell tat doch sein Möglichstes, um zu verhindern, dass ich das richtige Beweismaterial zusammenbekam. Caldwell und Ingram gehören derselben Loge und demselben Club an. Sie sind Nachbarn in einer Gegend, wo ich es mir nicht leisten kann zu wohnen. Und ihre Frauen besuchen sich immer. Sie haben ihre gemeinsame Whist-Partie und lauter ähnliche Dinge.«
»Und glauben Sie noch, dass Jackson im Recht war?«, fragte ich, indem ich einen Augenblick auf der Schwelle stehen blieb.
»Ich glaube nicht, ich weiß nicht«, lautete die Antwort. »Zuerst glaubte ich auch, dass er Aussichten hätte. Aber ich sagte meiner Frau nichts davon. Ich wollte ihr keine Enttäuschung bereiten. Ihr Herz hing an einem Aufenthalt auf dem Lande, so schwer das auch zu machen war.«
»Warum lenkten Sie nicht die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass Jackson die Maschine vor Schaden zu bewahren versuchte?«, fragte ich Peter Donnelly, einen der Werkführer, die vor Gericht ausgesagt hatten. Er überlegte lange, ehe er antwortete. Dann warf er einen scheuen Blick um sich und sagte:
»Weil ich eine brave Frau und drei der süßesten Kinder habe, die Ihre Augen je erblickt haben. Deshalb.«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich.
»Mit anderen Worten, weil es nicht ratsam gewesen wäre«, antwortete er.
»Sie meinen -«, begann ich.
Er unterbrach mich heftig.
»Ich meine, was ich sage. Ich arbeite seit vielen Jahren in der Spinnerei. Als Kind fing ich an den Spindeln an und habe mich seitdem langsam heraufgearbeitet. Nur durch schwere Arbeit habe ich meine jetzige Stellung erlangt. Ich bin Werkführer, mit Verlaub. Und ich zweifle, dass in der ganzen Spinnerei sich eine Hand ausstrecken würde, um mich vor dem Ertrinken zu retten. Ich war immer Mitglied der Gewerkschaft. Aber bei zwei Streiks habe ich der Gesellschaft geholfen. Sie nannten mich einen Streikbrecher. Nicht einer von ihnen würde ein Glas mit mir trinken, wenn ich ihn dazu einlüde. Sehen Sie die Narben an meinem Kopfe? Sie stammen von Ziegelsteinen, die nach mir geworfen wurden. Kein Kind an den Spindeln, das meinen Namen nicht verfluchte. Mein einziger Freund ist die Gesellschaft. Und nicht aus Pflichtgefühl stehe ich zu ihr, Brot und Butter und das Leben meiner Kinder binden mich an sie. Das ist es.«
»War Jackson zu verurteilen?«, fragte ich.
»Er hätte Schadenersatz haben sollen. Er war ein guter Arbeiter, der nie krakeelte.«
»War es Ihnen denn nicht möglich, die ganze Wahrheit zu sagen, wie Sie geschworen hatten?«
Er schüttelte den Kopf.
»Die Wahrheit, die reine Wahrheit, und nichts als die Wahrheit?«, sagte ich feierlich.
Wieder wurde sein Gesicht leidenschaftlich erregt, und er hob es nicht zu mir, sondern zum Himmel.
»Für meine Kinder würde ich Seele und Leib in ewiger Hölle brennen lassen«, lautete seine Antwort.
Henry Dallas, der Generaldirektor, war ein Mensch mit einem Fuchsgesicht, der mich frech ansah und sich weigerte, über die Sache mit mir zu sprechen. Nicht ein Wort über die Gerichtsverhandlung und seine Aussage konnte ich aus ihm herausbekommen. Aber bei dem anderen Werkführer hatte ich mehr Glück. James Smith war ein Mann mit harten Zügen, und das Herz sank mir in die Schuhe, als ich vor ihm stand. Auch er machte den Eindruck, dass er keinen freien Willen hätte, und als ich mit ihm sprach, bemerkte ich, dass er geistig höher stand als der Durchschnitt seiner Klasse. Er stimmte mit Peter Donnelly darin überein, dass Jackson hätte entschädigt werden müssen, ja, er ging sogar noch weiter und nannte die Handlungsweise, die den durch einen Unfall zum Krüppel gewordenen Arbeiter brotlos gemacht hatte, herzlos und gemein. Er erklärte auch, dass Unfälle in der Spinnerei häufig seien, und dass die Gesellschaft die Politik verfolge, alle sich daraus ergebenden Schadenersatzansprüche bis zum bitteren Ende zu bekämpfen.
»Das bedeutet jährlich Hunderte und Tausende für die Aktionäre«, und ich musste an die letzte Dividende, die mein Vater erhalten, und an den herrlichen Mantel für mich und die Bücher für meinen Vater denken, die von ebendieser Dividende gekauft worden waren. Ich dachte an den Ausspruch Ernsts, dass an meinem Mantel Blut klebe, und ich begann unter meinen Kleidern zu zittern.
»Haben Sie bei Ihrer Aussage nicht betont, dass Jackson verunglückte, als er versuchte, die Maschine vor Schaden zu bewahren?«, sagte ich.
»Nein«, lautete seine Antwort, und sein Mund presste sich bitter zusammen. »Ich sagte aus, dass Jackson seinen Unfall selbst verschuldet hätte, und zwar durch Nachlässigkeit und Fahrlässigkeit, und dass die Gesellschaft in keiner Weise verantwortlich oder ersatzpflichtig sei.«
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