Ob Ottmar und Anneliese diese Absichten des NS-Regimes mit ihren jungen Jahren schon durchschaut haben? Wohl eher nicht. Aber die Eltern müssten es gesehen haben. Wie standen sie dazu? Haben sie es unterstützt, dass ihre Kinder diesen parteinahen Organisationen angehörten? Nun, wenn man als Vater schon Mitglied in der NSDAP war, dann lag das wahrscheinlich sehr nahe …
Auch der nächste Schritt war wohl vorgezeichnet:
Im Februar 1938 – d.h. mit 19 Jahren – ging Ottmar zu einem mehrwöchigen Kurs auf die NSKK Motorsportschule Regensburg. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) war eine paramilitärische Unterorganisation der NSDAP. Auf solchen Schulen, von denen es insgesamt 26 in ganz Deutschland gab, fand die motortechnische Massenausbildung der künftigen Soldaten statt. Für die sogenannte „Motor-HJ“, vermutlich war Ottmar hier Mitglied, stellte das NSKK Motorräder, Reparaturwerkstätten, Ausbildungsmaterial und vor allem fachliche Ausbilder zur Verfügung. Letztere waren für die Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung zum damaligen Führerschein IV (bis 250 cm³ Hubraum) zuständig. (5)
Ottmar schreibt an seinen Eltern von der NSKK Motorsportschule folgende Postkarte:
Regensburg, 17.2.38
Liebe Eltern! Bin gut angekommen. Vorläufig geht noch alles drunter und drüber. Das wird wohl noch die ganze Woche so gehen. Nächste Woche werde ich wohl Zeit haben, ausführlich zu schreiben. Wenn Ihr etwas schicken wollt, so nur Geld und einen Schlafanzug.
Einstweilen herzliche Grüße Ottmar
Ende des Jahres 1938, konkret in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, fanden die vom nationalsozialistischen Regime organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich statt. Sie ging als (Reichs-)Kristallnacht oder Reichspogromnacht in die Geschichte ein. Dabei wurden etwa 400 Juden ermordet oder in den Suizid getrieben. Über 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Die Pogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zu deren systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündete. (6)
Auch in Nürnberg hat die Sturmabteilung (SA) der NSDAP gewütet, die Synagoge in Brand gesetzt, die jüdischen Geschäfte zerstört und Juden auf offener Straße erschlagen. „Von diesem Tag an konnte wohl niemand mehr behaupten, er habe nicht gewusst, was den Juden widerfährt.“ (7)
Wie hat man in der Familie Müller diese Ereignisse aufgenommen? Hatte man jüdische Freunde, Bekannte, Nachbarn, bei denen man die Entwicklung hautnah miterleben konnte? Was dachte man über die Juden? Welche Gefühle hatte man ihnen gegenüber? Mitleid, Angst, Wut oder Hass? Und woher kamen diese Gefühle? Hat man sich von der Propaganda, den „Medien“, aufhetzen und anstecken lassen?
Ich weiß es nicht, denn auch über dieses Thema wurde nach dem Krieg bei uns nie gesprochen.
Ottmar war nun 20 Jahre – ein Junge, wie er dem Wunschbild von Adolf Hitler entsprach: rein arisch, „flink wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“. (8)In den zurückliegenden Jahren wurde er systematisch auf seine künftige Aufgabe vorbereitet. Dazu gehörte nicht nur die körperliche, sondern insbesondere auch die ideologische Schulung im Sinne des nationalsozialistischen Staates.
Seine Eltern und seine Schwester konnten stolz auf ihn sein und wahrscheinlich hat er das sehr genossen, nachdem er in seiner Kindheit auf diese „Anerkennung“ lange verzichten musste. Nun ist er zum „Star“ der Familie geworden. Das muss ein wahnsinnig gutes Gefühl für ihn gewesen sein.
Am 26. August 1939 wurde Ottmar zur Wehrmacht einberufen.
Wie seinem ersten Brief an Anneliese zu entnehmen ist, kam er zur Grundausbildung zunächst in den „Osten“, vermutlich nach Breslau, was damals zu Großdeutschland gehörte. Vermutlich hat er hier bereits seine Freundin Ruth kennengelernt.
Der Überfall auf Polen – und damit der Beginn des 2. Weltkriegs – fand am 1.9.1939 statt.
Wahrscheinlich wurden die frisch eingezogenen Soldaten noch nicht in die Kampfhandlungen einbezogen, sondern kurzfristig in den „Westen“ verlegt. Zumindest könnte man dies aus folgender Briefkarte aus Wahn, einem Stadtteil von Köln, vermuten.
Wahn, 13.10. 39
Liebe Anneliese!
Für das Päckchen und den Brief herzlichen Dank. Dreizehn Tage brauchte es, bis es mich erreichte. Das kommt daher, weil wir so plötzlich vom Osten zum Westen kamen. Die Hauptsache ist jedenfalls, dass ich es jetzt hab. Meine große Hoffnung, ein paar Tage nach Hause zu kommen, ist jetzt leider auch ins Wasser gefallen. Ich hatte mir das schon so nett ausgemalt. Von Herbert habe ich gestern auch ein Päckchen erhalten. Das hat mich sehr gefreut. Wenn ich wieder nach Hause komme, werden wir wieder zusammen feiern, nicht wahr? Hoffentlich dauert die Sache hier nicht zu lange. Abwechslung hat man ja hier etwas. Wir können sonntags nach Köln fahren, das ist nur 15 km entfernt. In Köln gibt’s bestimmt was zu sehen. Ich werde darüber wieder Bericht erstatten. Wenn Du wieder schreibst, dann vergiss doch bitte nicht mir mitzuteilen, was mit Lisa los ist. Die Grüße von Tante Adelheid erwidere ich aufs herzlichste. Im Westen gibt es sonst noch nichts Neues.
Sei herzlich gegrüßt
von Deinem Bruder Ottmar
Der Überfall auf Polen und der Kriegsbeginn sind offensichtlich kein Thema. Dass er es nicht mitbekommen hat, ist auszuschließen. Durfte er in der Feldpost darüber nicht schreiben oder waren ihm die privaten Dinge doch wichtiger als der Krieg?
Hingewiesen sei noch auf die schöne und gut leserliche Schrift in Ottmars Briefen, meist in Tinte und nahezu frei von Rechtschreibfehlern. Hier zeigt sich, dass er eine gute Schulausbildung und Erziehung genossen haben muss. Dies unterstreichen auch die höflichen Formulierungen, die er stets zu Beginn und am Ende seiner Briefe wählt. Für unseren heutigen Geschmack sind sie fast zu höflich und formell, aber in seiner Zeit absolut korrekt.
27.12.39
Liebe Anneliese!
Recht herzlichen Dank für Deine nette Weihnachtsüberraschung. Den Likör habe ich bis zum Schluss aufbewahrt und konnte ihn auch tatsächlich gut gebrauchen. Über den Kalender habe ich mich ganz besonders gefreut. Du weißt halt, was ich gerne haben möchte.
>Mit dem Urlaub hatte ich leider Pech. Es durften nur Verheiratete fahren. Da muss ich mir doch überlegen, ob ich nicht auch bald heirate. Alt genug bin ich doch schließlich. Eine Frau hätte ich auch. Aber ich glaube, so ist es doch noch besser. An eine Frau gebunden sein, davon will ich vorläufig nichts wissen.
Wie steht es denn mit Dir? Gehst Du fest aus mit Herbert oder hat sich das gelegt? Ist er denn eigentlich nicht eingezogen worden? Bestelle ihm bitte viele Grüße von mir.
Dir wünsche ich nun alles Gute zum Neuen Jahr und grüße Dich herzlich.
Dein Ottmar
Seine Leidenschaft für Kalender wird uns noch häufiger begegnen. Warum sind sie ihm so wichtig?
Und auch die Sehnsucht nach Urlaub werden wir immer antreffen. Ist es der Wunsch „heimzukehren“ nach einem Ort, wo man hingehört, wo man sozial eingebettet ist? Ottmar kokettiert mit dem Gedanken, eine Frau, eine eigene Familie zu haben. Aber mit seinen 21 Jahren weist er diesen Gedanken doch schnell wieder von sich.
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