Götz T. Heinrich - Astellis Pilgerschaft

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Wer ist Astelli? Scheinbar nur ein Kind, das sich auf einer Pilgerreise quer durch alle Länder begibt. Doch niemand, der das Kind trifft, bleibt von der Begegnung unberührt. Es steckt mehr in Astelli, als das Auge zu sehen vermag – doch das Kind weiß selbst nicht, ob es wirklich sein will, wozu sein Schicksal es anscheinend hinführt.
In dreizehn Kapiteln wird Astellis Pilgerschaft und ihre Folgen für die Welt ausgebreitet, und mit ihr die große Frage, ob der Glaube den Menschen macht oder der Mensch den Glauben.

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Impressum

Texte: © Copyright by Götz T. Heinrich

Umschlaggestaltung: © Copyright by Götz T. Heinrich

Originalgrafik: llexandro / deviantart

Verlag:

Götz T. Heinrich

Gudrunstr. 21

67059 Ludwigshafen

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das blaue Haus

Der Junge mit den Wassereimern war gerade am Brunnen angekommen, als er in der Entfernung Astelli über die Brücke kommen sah.

Nur einen kurzen Moment hielt der Junge inne und sah herüber. Nein, diese Gestalt kannte er nicht; er hatte sie auch sicherlich noch nie gesehen. Ein kleiner Körper in einem flatternden grauen Mantel, mehr war da nicht, kaum etwas, worüber man sich Gedanken machen musste. Nicht, wenn man Wasser zu holen hatte, Wasser für die Suppe zu Abend, in die Mutter Kohl, Speck, Graupen und jede Menge andere leckere Sachen schneiden würde...

Während Astelli langsam näher kam, knotete der Junge seinen ersten Eimer am Seil der Winde fest, welche am Brunnen vor sich hin rostete. Wahrscheinlich würden sie nach dem nächsten Winter eine neue Winde brauchen, dachte der Junge, aber nun war erst Spätsommer, noch lange nicht die Zeit, daran zu denken, was im Winter sein würde. Vielleicht würde sein Vater mit der neuen Winde auch einen neuen Schöpfeimer anbringen, so dass er nicht, wie jetzt, immer wieder die Knoten binden und lösen musste.

Der Junge ließ den ersten Eimer in den Brunnen hinab, hörte das Quietschen der altersschwachen Winde und dann das Klatschen von Holz auf Wasser. Seine Finger umgriffen den Griff der zerfallenden gußeisernen Kurbel und drehten dann den Eimer wieder nach oben, gefüllt mit klarem, kalten Wasser. Er löste den Knoten, band den zweiten Eimer fest, dann wiederholte sich der Vorgang. Quietschen, klatschen, kurbeln, den Knoten lösen. Der Junge packte beide Eimer, einen links, einen rechts, dann wandte er sich zum Gehen.

„Warte noch“, rief ihm Astelli zu.

Der Junge blieb stehen, setzte die Eimer ab und wandte sich um. „Ja?“ fragte er.

„Warte noch“, wiederholte Astelli. "Ich möchte dich etwas fragen."

„Ja“, sagte der Junge. „Was ist?“

Astelli trat zu ihm und deutete mit dem Finger an ihm vorbei auf den dunkelgrün bewachsenen Hügel. „Wem gehört das blaue Haus dort oben?“

Der Junge sah sich um und lächelte. „Das ist unser Haus“, sagte er stolz. „Dort wohnen wir. Mein Vater, meine Mutter und ich.“

„Es ist das erste blaue Haus, das ich sehe, seitdem ich hier in diesem Land angekommen bin“, sagte Astelli. „Es gibt nicht viele davon, oder?“

„Natürlich nicht"“, antwortete der Junge, und sein Stolz legte sich wie eine Maske über sein Gesicht. „Nur reiche Leute können sich blaue Farbe leisten.“

Astellis Augen wanderten vom Haus zum Jungen. „Und ihr seid reiche Leute?“

„Oh ja.“ Der Junge blickte Astelli an, und zu seiner Verwunderung bemerkte er zum ersten Mal, dass er einem anderen Kind gegenüberstand, kaum älter oder größer als er selbst. Struppiges Haar von einem seltsamen strohblonden Ton drängte unter der Kapuze des grauen Mantels hervor und fiel in ein schmales, fast hageres Gesicht mit einer kaum dazu passenden Stupsnase, der sich ein dünner, blasser Mund anschloss. Die Augen schienen tiefer in ihren Höhlen zu liegen, als es ihnen gut tat, und der Junge konnte nicht feststellen, welche Farbe sie hatten, geschweige denn, ob sie ihn ansahen oder einfach durch ihn hindurch blickten.

Mit einem Mal wurde es dem Jungen unangenehm, neben Astelli zu stehen. „Ich muss dann wieder“, sagte er. „Wasser holen.“ Er griff nach den Eimern.

„Warte noch“, sagte Astelli. „Wie ist dein Name?“

„Ivano“, sagte der Junge, und im selben Moment ärgerte er sich, das getan zu haben. Wozu hatte er sich vorgestellt? Er kannte das fremde Kind ja noch nicht einmal.

„Ich bin Astelli“, sagte Astelli, als wären Ivanos Gedanken deutliche Worte gewesen und als sei dies die Antwort auf diese Gedanken. „Es ist schön, mit jemandem zu sprechen. Ich bin schon lange auf der Reise, und seit Tagen habe ich niemanden mehr getroffen. Es leben nicht mehr viele Menschen zwischen hier und der westlichen Grenze, oder?“

Ivano seufzte. „Ich weiß es nicht“, sagte er. „Wahrscheinlich liegt es an der Revolution.“

„Revolution?“ Astellis Augen weiteten sich ein wenig. „Ich wusste nicht, dass es in diesem Land eine Revolution gibt."

„Vater sagt auch immer, sie wäre nicht der Rede wert.“ Ivano winkte ab und sah zum blauen Haus - seinem blauen Haus - hinauf. „Ich verstehe auch nicht, was die Landarbeiter wollen. Die ganzen Jahre haben sie bei uns auf dem Hof immer gut arbeiten können, und wir haben uns gut um sie gekümmert. Und jetzt plötzlich verschwinden sie alle und rotten sich zusammen. Vater sagt, wenn sie sich auch nur in der Nähe der Hauptstadt zeigen, werden sie alle erschossen. Sie haben keine Gewehre.“ Der Junge griff wieder nach den Eimern. „So, aber jetzt muss ich wirklich zurück.“

„Warte noch“, sagte Astelli und berührte Ivano an der Schulter. „Lass mich dir beim Tragen helfen.“

Ivano wandte den Kopf wieder zu Astelli, senkte aber den Blick, bevor er wieder die seltsamen Augen erreichen konnte. „Nein, das geht schon“, murmelte er. „Ich kann das auch alleine.“

„Ich möchte aber“, sagte Astelli und griff kurzerhand nach einem der Henkel der Eimer. „Ich möchte helfen. Bitte.“

„Du bist komisch“, gab Ivano zurück, ließ dann aber einen der Eimer gehen, so dass Astelli ihn nehmen konnte. „Warum willst du helfen? Glaubst du, ich lasse dich dann in unser Haus mit hinein?“

Astelli schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Ich möchte einfach nur helfen.“

„Und warum?“

Mit beiden Händen und sichtlicher Mühe hob Astelli den hölzernen Eimer an. “Ich bin auf Pilgerschaft. Arbeit gehört zu meinen Pflichten als Pilger.“

„Pilgerschaft?“ Ivano sah mißtrauisch auf, wobei er sich bemühte, Astellis Blick zu vermeiden. „Wohin bist du unterwegs - nach Avenamice?“

Astelli schüttelte den Kopf und machte sich mit schweren Schritten auf den Weg in Richtung des blauen Hauses. „Ich reise. Das ist meine Pilgerschaft. Ich habe nicht vor, irgendwo anzukommen.“

„Aha?“ sagte Ivano und folgte dem Kind in einem halben Schritt Abstand. „Davon hab ich noch nie was gehört.“

„Es passiert auch nicht oft.“ Astelli wandte den Kopf um, und der Junge konnte deutlich sehen, dass die blassen Lippen leicht lächelten. „Aber so ist es nun mal.“

Ivano überlegte ein wenig. „Bist du nicht ein bisschen jung, um alleine auf Reisen zu gehen? Du bist doch höchstens zehn oder elf.“

„Zwölf.“ Astelli blickte wieder nach vorne. „Aber ich bin nicht alleine.“

„Nicht? Aber du...“

„Ich bin auf Pilgerschaft“, sagte Astelli mit einem seltsamen Unterton. „Auf Pilgerschaft ist man nie ganz alleine.“

Ivano blieb stehen. „Das verstehe ich nicht“, gab er zurück.

„Ich auch nicht“, sagte Astelli und ließ den Wassereimer fallen.

„Was tust du?“ schrie der Junge erschrocken auf, setzte seinen eigenen Eimer eilig ab und sprang nach vorne. Zu spät: das Wasser, das Astelli getragen hatte, war bereits ausgelaufen. „Du Esel! Warum hast du das getan?“

Astelli trat einige Schritte zur Seite. „Verzeih mir.“ In den seltsam überschatteten Augen lag echtes Bedauern. „Verzeih mir.“

„Jetzt muss ich das Mistding nochmal füllen! Du bist auch zu gar nichts nutze!“ Ivano hob den leeren Eimer auf und marschierte zornig zum Brunnen zurück. Zum Glück war er noch nicht weit gekommen. Immer noch mit Wut im Bauch griff er nach dem Seil an der Winde und machte sich daran, den Henkel festzuknoten.

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