Ella Wessel
GESICHT ist GESICHT
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ella Wessel GESICHT ist GESICHT Dieses ebook wurde erstellt bei
Gesicht ist Gesicht Gesicht ist Gesicht „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ (Immanuel Kant)
Kapitel 1 - August 1993
Kapitel 2 - Samuel Berger
Kapitel 3 - Dezember 2018
Kapitel 4 - Cannabis
Kapitel 5 - Ascona 1993
Kapitel 6 - Marlene
Kapitel 7 - Der Glaube
Kapitel 8 - Rilkes Gesichter
Kapitel 9 - Die Naive
Kapitel 10 - Golf
Kapitel 11 - Klaus Abel
Kapitel 12 - Einladung
Kapitel 13 - Whisky mit Eis
Kapitel 14 - Der Golfschläger
Kapitel 15 - der gelbe Porsche
Kapitel 16 - Joggingparcour
Kapitel 17 - Die Residenz
Kapitel 18 - Bruder Jacob
Kapitel 19 - Das Phantom
Kapitel 20 - Berlin
Kapitel 21 - Die Seenotretter
Kapitel 22 - Depressionen
Kapitel 23 - Drogengeld
Kapitel 24 - Amtshilfe
Kapitel 25 - Galerie Seidel
Kapitel 26 - Das Notizbuch
Kapitel 27 - Jasper
Kapitel 28 - Das Logbuch
Impressum neobooks
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
(Immanuel Kant)
Auf der Rückreise von der Schweiz nach Berlin fand ich am Abend in Lindau ein Zimmer für eine Nacht, in einem drei Sterne Garni Hotel. Einfach, aber sauber, von der Besitzerin liebevoll eingerichtet. Das kleine Mansardenzimmer im zweiten Stock, maximal vierzehn Quadratmeter groß, schien das einzige noch freie Zimmer im Ort zu sein. Ich war es gewohnt, in größeren vier bis fünf Sterne Häusern zu übernachten, aber alle waren ausgebucht. Nach einer heißen Dusche machte ich es mir mit einem Käsesandwich und einem Glas Wein auf dem Bett gemütlich. Soweit man es sich auf einem Hotelbett, das an einer schrägen Wand steht und nicht breiter als ein Meter ist, gemütlich machen konnte. Das Sandwich hatte ich mir an einer Autobahnraststätte gekauft und den Wein von der Rezeption mit auf mein Zimmer genommen. Ich schaltete das Schweizer Fernsehprogramm ein um die Nachrichten anzusehen. Und dann hörte ich folgende Meldung:
Wildschweine im Tessin! Gestern fand die Polizei in einem Waldstück in der Nähe von Ascona die bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leiche eines vermutlich deutschen Touristen. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um den Besitzer oder Eigentümer des Sportwagens mit einem Berliner Kennzeichen handelt, der unweit des Fundortes der Leiche parkte. Der Mann trug keine Ausweispapiere bei sich. Die Polizei ermittelt und tappt derzeit noch im Dunkeln. Die Wildschweine haben einen Großteil des Bodens umgepflügt. Dazu noch das Unwetter vom Vortag, was eine Spurensicherung fast unmöglich macht. Was uns jedoch beschäftigt, sind die Fragen, seit wann es im Tessin Wildschweine gibt und ob Wildschweine Menschen anfallen? Wir fragten dazu einen Experten…
Als ich diese Meldung hörte, wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Die Leiche lag unweit des Fahrzeuges, also nicht mehr unmittelbar daneben, dort wo wir sie abgelegt hatten. Das muss ja eine riesige Sauerei gewesen sein.
…Die Invasion der Wildscheine ist ein relativ neues Problem. 1981 wurden im Tessin erstmals wieder Wildschweine gesichtet. Die Population vermehrt sich rasend schnell. Bis zum Park am Monte Veritá waren sie bisher noch nicht vorgedrungen. Menschen wurden auch nicht angegriffen. Ein bewusster Angriff eines Wildschweines auf einen Menschen ist mehr Jägerlatein als Realität. Wenn überhaupt, würde das Tier auch höchstens eine Attacke machen und dann fortlaufen. Wildschweine fressen alles, also auch Fleisch. Sie sind aber keine Raubtiere, sondern Aasfresser. Das heißt, sie würden auf Futtersuche niemals einen Menschen anfallen. Liegt allerdings eine Leiche im Wald, kann es schon sein, dass Wildschweine sie anknabbern. Wenn eine Bache jedoch eine Bedrohung für ihre Frischlinge sieht, kann das schon mal anders ablaufen…
Ich hörte den Ausführungen nicht weiter zu und dachte mir, da haben wir ja noch mal Schwein gehabt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Nach einem weiteren Glas Wein stellte ich den Fernseher ab, knipste das Licht aus und ging mit diesen Bildern im Kopf zu Bett. Da war er wieder, mitten in der Nacht, der Tote mit der Clownfratze - die mich auslachte. Wildschweine um mein Bett herum, die grunzend ihre feuchten Nasen an meinem Bein rieben. Schweißgebadet saß ich senkrecht im Bett.
Begonnen hatte diese ganze Misere, die mein bis dahin sorgenfreies Leben total aus den Fugen geworfen hatte, eine Woche vorher. An einem sonnigen, wunderschönen Tag, im August
Kapitel 2 - Samuel Berger
Heute, fünfundzwanzig Jahre später, wohne ich in einer Seniorenresidenz in einem idyllischen Stadtteil von Lübeck, direkt an der Ostsee. Die Bilder in meinem Kopf, von dem Ereignis in der Schweiz, hatten sich über viele Jahre hartnäckig gehalten. Vermutlich, weil ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Aber im Laufe der Zeit hatte ich diese Dämonen in den hintersten Winkel meines Gehirns verbannt und in Ketten gelegt. Erst jetzt im Alter, wo ich interessante Gespräche mit meinem neuen Zimmernachbarn Samuel führe, kommen diese Erinnerungen wieder hoch.
Es ist Spätherbst, die ersten Nachtfröste sind schon zu spüren und die Touristen, die sich hier in den Sommermonaten tummeln, sind längst abgereist. Die Gärtner fegen in den Grünanlagen das restliche Laub zusammen und einige Rosen strecken noch stolz ihre Köpfe in den Wind und trotzen der Kälte, als wollten sie sagen, schaut her wir werden den Winter überleben. Monströse schwimmende Metallkisten, die hunderte von Fahrzeugen in ihrem Bauch verschlingen und dann so märchenhafte Namen wie Peter Pan, Robin Hood oder Huckleberry Finn tragen, ziehen täglich vor meinem Fenster vorbei. Graue bis schwarze Rauchwolken steigen aus ihren Schornsteinen in den Himmel empor.
Der Wind kommt aus Nord-West und bläst den Ruß der Nils Holgersson, die täglich pünktlich um 10 Uhr aus Trelleborg hier einläuft, in meine Nase. Obwohl es das sauberste Schiff der gesamten Flotte ist, die hier täglich von und nach Skandinavien unterwegs sind, stinken sie immens aus ihren Schornsteinen und hinterlassen ganz feine schwarze Staubpartikel auf der Wäsche, die gerade auf dem Balkon steht. Und diese kleinen Staubpartikel atmen wir täglich ein. Es war schon eine riesige Umstellung für mich, mein großes Haus in Blankenese, mit seinen 180 Quadratmetern, und mit Blick auf den Süllberg und die Elbe, gegen dieses 45 Quadratmeter kleine Appartement mit Balkon und Blick auf die Trave, einzutauschen. Mit meiner kleinen Rente und der bescheidenen Witwenrente meines Mannes hätte ich das Haus nicht mehr lange halten können. Es war mir nicht wert, meine Ersparnisse darin zu investieren. Mit dem zusätzlichen Geld aus dem Hausverkauf kann ich mir einen unbekümmerten und glückseligen Lebensabend gestalten. Zu meinem achtundsechzigsten Geburtstag, das ist jetzt gut acht Monate her, bin ich hier eingecheckt und fühle mich mittlerweile ganz wohl. Auf den Wasserblick und die Schiffe wollte ich nicht verzichten, deshalb habe ich diese Residenz für mich auserkoren. Meine wenigen verbliebenen Freunde aus Hamburg haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Was willst du da, du bist nicht mal siebzig? Ich habe meine Gründe.
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