Ein Knecht brachte uns ins Dorf. Von dort fuhren wir mit der Postkutsche nach Holzkirchen.
Am nächsten Tag schon begann sie im Hospital zu arbeiten. Sie wurde dort in die Heilkunde eingeführt. Da ich noch so klein war, durfte ich mit ihr zusammen im Schwesternheim wohnen. Anna erzählte niemanden wie alt ich in Wirklichkeit schon war. Das hätte einen Skandal verursacht. Wir hatten zusammen ein kleines Zimmer. Mich, den kleinen Jakob, der inzwischen 19 Jahre alt war, aber immer noch wie ein Schuljunge von 8 oder 10 Jahren aussah, nahm sie kurzerhand überall mit. Ich war, so sagten es jedenfalls alle, ein wunderschöner Junge geworden. Nichts Bäuerliches war an mir. Ich sah nicht nur aus als wäre ich blaublütig. Im wörtlichen Sinne war ich es auch. Die Mädchen und Frauen des Krankenhauses mochten mich allesamt. Trotz meiner blauen Haut schlossen sie mich, den kleinen Jungen in ihr Herz.
Wenn ich nicht mit Anna im Krankenhaus unterwegs war, saß ich meistens in unserem Zimmer. Das Krankenhaus hatte einen schönen Park. Dort setzte mich Anna auf eine Bank. Sie besorgte mir immer etwas zum Lesen. Mit anderen Kindern, die das Hospital als Besuch bevölkerten, spielen? Nein, das wollte ich nicht. Dafür fühlte ich mich nicht in der Lage und zu alt. Ich wollte mit anderen Kindern eigentlich nichts zu tun haben. Die anderen Kinder mit mir auch nicht.
Holzkirchen war trotzdem eine tolle Abwechslung. Nachdem ich praktisch die letzten 19 Jahre ausschließlich auf dem Hof verbrachte hatte und nichts anderes kannte als die Kammer, den Misthaufen, Heu und allerlei Nutztiere. Ich war heilfroh, endlich diesen Bauernhof mit der neuen Bäuerin verlassen zu können. Der derbe manchmal gemeine Ton den mir einige meiner Brüder und die Knechte jahrelang entgegenbrachten, war für mich die ganze Kindheit über schwer auszuhalten gewesen. Wie oft musste ich heimlich in der Nacht weinen. Immer wenn Anna eingeschlafen war. Dann kuschelte ich mich an ihren, für mein Empfinden heißen Körper und weinte mich in den Schlaf. Bekümmert darüber anders zu sein als alle anderen. Es ärgerte mich auch maßlos, mich nicht wehren zu können. Meinen Hassgefühlen gegenüber Leuten die mich beleidigten oder kränkten ließ ich meistens nachts freien Lauf. Ich malte mir aus wie ich sie bestrafte. Obwohl ich feste Arme und Beine hatte, zuschlagen oder treten konnte ich damit nicht. So blieb es bei der bloßen Vorstellung von Rache und Vergeltung. Schon damals legte ich mir verschiedene Taktiken zurecht, um mich notfalls auch ohne Kraft und Aufwand zur Wehr zu setzen und gegebenenfalls meine Ehre wieder herzustellen. Damals waren das noch Phantastereien eines kleinen Jungen. Aber sie wurden stärker. Bei Beleidigungen und Ehrabschneidungen konnte ich meinen wachsenden Zorn kaum bändigen. Immer war der Tod dabei im Spiel. Vergeltung und Rache hatten meiner Vorstellung nach nur einen Sinn, wenn sie endgültig waren. Endgültig bedeutete den Tod. Jemanden einen Denkzettel zu verpassen, machte und macht auch heute noch keinen Sinn, wenn der Betreffende dies jederzeit wiederholen könnte.
Deshalb, und nur deshalb gab und gibt es für die Kränkungen und Beleidigungen die Jakob Gurrer betreffen nur eine wirksame Strafe: Den Tod.
Ich hatte und habe nach wie vor kein schlechtes Gewissen. Ich werde, auch im Anblick meines eigenen Todes niemals etwas bereuen was ich während meines Daseins getan habe. Es gibt keinen Grund dafür. Wenn mich eines Tages Gott fragen sollte: Warum Jakob?
So werde ich ihm antworten:
Warum hast du ihnen einen Grund gegeben? Wieso sehe ich so aus?
Warum hast du mich so geschaffen?
Als Zwanzigjähriger hatte ich nun das Aussehen eines ganz normalen Jungen von vielleicht zehn oder zwölf. Aber mein Wissen und mein Geist waren wie ich schon erwähnt hatte, wesentlich weiterentwickelt. Wenn ich mit meiner Schwester sonntags spazieren ging, ließen wir uns viel Zeit. Ich konnte ja nur sehr langsam gehen um nicht völlig außer Atem zu, kommen. Sie schmierte mich zu diesem Zweck gerne mit diesem roten Zeug ein. Ich hasste dieses Versteckspiel. Die Leute sollten mich so sehen wie ich wirklich war. Aber Anna hatte Angst um mich. Vielleicht zu recht.
Denn den Männern war ich unheimlich. Vielleicht weil ich auf irgendeine Weise eine seltsame unbekannte Schönheit verkörperte, die viele Männer aus der Oberbayerischen Gegend mit ihrer gewissen bäuerlichen Grobschlächtigkeit an Typen nicht kannten. Genau betrachtet verabscheuten sie mich, dieses Wesen, das Jacob Gurrer verkörperte. Ein Mann hatte Muskeln, ein kerniges, markantes Gesicht, rote Flecken darin, vielleicht ein paar Narben, eine kräftige Stimme und war im Besonderen trinkfest. Das war aber so ziemlich das Gegenteil von Jacob Gurrers Erscheinung. Ich war sanft, schwächlich und doch puppenhaft schön. Eigenschaften mit der man im oberbayrischen Raum keine Bauerntochter beeindrucken konnte. In heutiger Zeit hätten sie mich vielleicht als kranke Schwuchtel beschimpft. Aber mein Wesen war alles andere als sanft und schwuchtelhaft.
Wenn ich nur auf Grund meiner Behinderung gekonnt hätte, ich wäre so manchen von diesen Bauerntölpeln an den Kragen gegangen. Doch meine Konstitution ließ eine auch wie immer geartete körperliche Auseinandersetzung nicht zu. Ich war ja nicht mal imstande zu laufen. So wuchs ich in der Obhut meiner Schwester sehr, sehr langsam zum Manne heran. Die Leute glaubten alle ihre Geschichte vom kleinen Bruder. Dem Nachzügler. Niemand hätte vermutet dass ich bereits über zwanzig Jahre alt war.
Eines Tages forderte sie mich auf, zu einer Untersuchung mitzukommen. Sie wollte scheinbar meiner Andersartigkeit auf den Grund gehen. Ein angesehener Professor untersuchte mich ausgiebig. Aber auch er konnte keine eigentliche, akute Krankheit feststellen. Er vermutete höchstens Mangelerscheinung und eine schwache Lungenfunktion. Für den langsamen Herzschlag hatte er keinerlei Erklärung parat. Anna verschwieg ihm allerdings das wahre Alter ihres Bruders. Es erschien ihr nicht ratsam mit einem jungen Burschen hausieren zu gehen, der offensichtlich auf dem körperlichen Stand eines Kindes blieb. Sie bläute mir vorher ein, nur das allernötigste von mir zu geben. Der Arzt durfte keinesfalls Kenntnisse über den Zustand meiner derzeitigen, geistigen Reife erlangen.
Professor Dr. Heinz Friedrich Wolf, eine Kapazität, Leiter des Hospitals und Lehrstuhlinhaber bot meiner Schwester an, ihren schwächlichen Bruder von seinen Kollegen eingehend untersuchen zu lassen. Anna lehnte glücklicherweise ab. Ihr Bruder Jakob tat ihr leid und sie wollte ihn nicht den fremden Wissenschaftlern in die Hände geben, die dann alle möglichen Experimente mit ihm anstellten. Danke Anna.
Lieber wollte sie diese Versuche selber machen. Natürlich war es im 19. Jahrhundert für Frauen unmöglich zu studieren. Schon gar nicht Medizin. Ein reiner Männerberuf. Prominente Mediziner verfassten, nach heutigem Maßstab, wahre Hetzschriften über die Frauen. Nach der geltenden Meinung wäre eine Frau, bedingt durch ihren Zyklus, absolut untauglich als Ärztin. Außerdem würde sie an den Universitäten die männlichen Studenten ablenken. Weiterhin galten Frauen als weniger intelligent als Männer, da man herausgefunden hatte, dass die Hirnmasse der Männer größer war, als die der Frauen. Aus heutiger Sicht eine lachhafte Ansicht. Damals war das allerdings bitterer Ernst.
Die Ausbildung als Hebamme, Jahrhunderte lang eine Domäne der natürlichen Frauenmedizin, war bereits Anfang des 19.Jahrhunderts auf dem Rückzug. Hausgeburten wurden durch die Verstädterung immer weniger. Die klinische Entbindung setzte sich allmählich durch. Ein Fehler, der unzähligen Neugeborenen und Müttern das Leben gekostet hat. Und damit war der Verbreitung des Kindbettfiebers Tür und Tor geöffnet, da die Klinikärzte damaliger Zeit, die grundsätzlichen Hygieneregeln nicht beachteten. Ein dummer männlicher Fehler, der den Hebammen bei den Hausgeburten niemals unterlaufen wäre.
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