Sie blieb vor der Zelle stehen, betrachtete die schwere, massive Holztür. Sie war noch in Takt, nur die Schlösser fehlten. In den Putz der Wände waren einzelne Worte und ganze Sätze eingeritzt. Sie konnte sich vorstellen, was hier geschrieben stand. Es waren die verzweifelten Worte jener Insassen, die man hier eingesperrt hatte.
Sie verließ den Ort, der ihrer Tante die schlimmsten Qualen ihres Lebens beschert hatte. Auf der anderen Seite lagen die Waschräume und die Toiletten. Die Räume mit den sanitären Anlagen sahen genauso trostlos aus, wie alles andere in dem ehemaligen Sanatorium. Die Metallteile waren stark verschmutzt, oxidiert oder lagen herausgerissen auf dem staubbedeckten Boden. Mia blickte auf die alten blass blauen Fliesen. Wie hässlich sie doch waren. Genauso hässlich wie das, was hier mit Tante Juana geschehen war. Mia fühlte ein Gefühl des Bedauerns in sich, aber auch so etwas wie Wut und Empörung. Wie konnten Menschen ihren Artgenossen nur so etwas antun?
Sie blickte auf ein zerbrochenes Waschbecken. Es war genauso zerstört worden, wie das Leben der Patienten zu jener Zeit. Alles war in Schein und Rauch aufgegangen, auch die vielen Jahre, die man ihrer Tante gestohlen hatte.
Mia verließ die Waschräume und trat zurück auf den Flur. Der Besuch des baufälligen Gebäudes brachte ihr nicht viel. Der Zustand der ehemaligen Heimstätte stimmte sie irgendwie traurig. Der Staat gab so viel Geld für unnütze Projekte aus. Hätte man hier an der Stelle nicht ein Museum oder eine Gedenkstätte errichten können? Sollten die vielen Insassen hier etwa umsonst gelitten haben? Aber was nützte es schon in der Vergangenheit herumzuwühlen. Allerdings wollte sie nicht gehen, ohne Tante Juanas Zimmer gesehen zu haben. Den Ort, an dem sie viele lange Jahre verbracht hatte. Wie mochte es dort aussehen?
Mia stieg vorsichtig die ausgetretenen Stufen empor. Das war nicht ganz ungefährlich, denn von dem ehemaligen Metallgeländer waren nur noch einzelne Bruchstücke vorhanden. Das obere Stockwerk sah noch schlimmer aus, als wie sie es befürchtet hatte. Durch das undichte Dach war Wasser in die Räume und auf die Flure gelaufen. Überall lag verwestes und vermodertes Zeug herum. Dementsprechend streng war der Geruch. Es stank bestialisch. Ein paar Zentimeter vor ihren Füßen lief eine Ratte den Flur entlang. Mia erschrak, schrie kurz auf und stützte sich an der Wand ab. Ein tiefes durchatmen, dann ging sie weiter.
Der erste Raum zu ihrer rechten war früher einer der Gemeinschaftsschlafräume gewesen. Hier hatte ihre Tante ab und zu übernachtet, nämlich immer dann, wenn man sie nicht gerade weggesperrt hatte. Der Raum war dunkel und kalt. Das gebrochene Licht, das durch die zerbrochenen Dachziegel in den Raum drang war gerade stark genug, um Silhouetten von vergammelten Gegenständen erkennen zu lassen. Meist waren es Metallteile oder Reste von Gestellen, die früher zu den Betten gehörten. Mia blieb stehen und betrachtete die groteske Szenerie. Sie kam ihr irgendwie unwirklich vor.
Blieb noch das Pförtnerhäuschen, beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben war. Es sah genauso elendig aus, wie zuvor das Hauptgebäude, welches das frühere Sanatorium beherbergte. Auch die ehemalige Schrankenanlage fehlte. Das gleiche galt für die robuste Eingangstür. Sie existierte einfach nicht mehr. Die große Frontscheibe war zerschlagen worden und im Inneren sah es aus wie nach dem Krieg. Sämtliche Kabel und Steckdosen waren aus den Wänden gerissen, Holz und Metallteile lagen verstreut auf dem Boden und moderten vor sich hin. Hier gab es nichts mehr, was einen längeren Aufenthalt gerechtfertigte. Frustriert schlingerte Mia auf dem staubigen Boden zurück zu dem kleinen Durchgang durch den sie vor fast einer Stunde das große Grundstück betreten hatte.
Gefühlschaos Pur! Tausende verschiedene Emotionen streiften ihre Gedanken. In ihrem Hals steckte ein Kloß, der immer größer wurde. Hatte sich das Leiden von Tante Juana wirklich hier abgespielt?
Nachdenklich passierte Mia die verwitterte Mauer hinter der sich die Hauptstraße befand. Augenblicklich wurde sie wieder von der Gegenwart eingeholt. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen von Autos, Mopeds, Kombis und Linienbusse erfüllte die Luft um sie herum. Sie beobachtete den dichten Verkehr auf der Straße. Hier spielte sich das wahre Leben ab. Mia hielt die Handtasche, die sie bei sich trug, fest umklammert. Sie ließ sich absichtlich viel Zeit. Falls ihr jemand folgte, würde sie es hier viel schneller bemerken, als später im Zentrum, wo stets ein reges Treiben herrschte. Doch bisher war ihr niemand aufgefallen. Je näher sie dem Stadtzentrum kam, desto mehr Gitter befanden sich vor den einzelnen Geschäften. Ihre Besitzer wollten sie vor Einbrüchen schützen.
Vor ihr tauchten die ersten Häuserblocks auf. Aus ihren Ecken roch es nach Urin. Mia rümpfte die Nase und ging schnell weiter. An der nächsten Straßenecke kam ihr ein Mann auf einem Dreirad entgegen. Er hatte Kartons und leere Flaschen geladen. So etwas gab es zuhauf in Südamerika. Mia wartete bis er sie passiert hatte, bevor sie ihren Weg fortsetzte. Auf einmal erschienen zwei Glockentürme in ihrem Blickfeld. Sie gehörten zu Còrdobas Kathedrale, die gleichzeitig den Anfang des historischen Zentrums bildete und zusammen mit dem „Cabildo“ als das erste Bauwerk an der Plaza San Martin genannt wurde. Um die Plaza führte eine mehrspurige Straße herum. Mia schritt auf die große Bronze Statue des Volkshelden General San Martin zu. Er wachte hoch zu Pferde über seine Stadt. Sie sah sich das Monument an und spürte wie sie innerlich ruhiger wurde. In diesem Augenblick war sie nur eine neugierige Touristin, mehr nicht. Schräg gegenüber der Statue begann die Fußgängerzone und direkt um die Ecke befand sich ein kleines Café. Mia ging darauf zu und suchte den Eingang. Er befand sich an der Seite des Gebäudes. Jemand rief ihr etwas zu.
„Hola Senora...“
Mia blieb erschrocken stehen. War sie gemeint? Unmöglich, hier in Córdoba gab es niemanden der sie kannte.
„Hola Senora...“ Eine angenehme Stimme wiederholte die Anrede. Mia drehte ihren Kopf in die entsprechende Richtung. In Höhe der Vorderfront standen ein paar Holztische plus Stühle auf dem Fußgängerweg. Auf einem saß ein Mann und winkte ihr freundlich zu. Sie setzte ihre Brille auf. Jetzt erkannte sie ihn. Es war der Taxifahrer, der sie vorhin hinaus zu der Schlossruine gefahren hatte. Sie grüßte zurück.
„Komm her und setzte dich an meinen Tisch. Magst du eine Tasse Kaffee?“
Mia akzeptierte dankend und setzte sich. Der Taxifahrer blickte sie neugierig an.
„Na, du machst vielleicht ein ernstes Gesicht. Ist der Besuch des alten Gemäuers nicht so verlaufen, wie du es dir erhofft hast? Ich habe dir doch gesagt, du solltest besser nicht allein das Grundstück betreten.“
„Das ist es nicht. Bitte entschuldige mich, ich bin nur ein wenig verwirrt“, antwortete Mia.
„War es so schlimm?“
„Nun ja...“
„Darf man wissen, was du dort wolltest?“
„Man darf, aber das ist eine lange Geschichte. Es geht um eine entfernte Verwandte von mir. Sie war vor langer Zeit in dem Sanatorium gewesen.“
„Du meinst, zum Zweck einer Behandlung?“
Mia nickte.
„Ich habe private Notizen von meiner Tante ausgehändigt bekommen, die belegen, dass sie dort war und zwar für mehrere Jahre.“
„Ah, jetzt verstehe ich und da wolltest du wissen, wie dieses Sanatorium heute aussieht?“
„In etwa. Ich versuche mir gerade ein Bild von meiner Tante zu machen. Weißt du, eigentlich kenne ich sie überhaupt nicht. Ich habe sie zum letzten Mal gesehen, als ich ein kleines Kind war.“
Der Taxifahrer hob die Schultern hoch. „Ich hoffe nur, du hast das gefunden, wonach du gesucht hast.“
„Nein, leider nicht. Das ehemalige Schlösschen ist total heruntergekommen und baufällig. Man kann nur noch erahnen, wie es früher ausgehen haben muss.“
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