Matthias Hahn
Wächter des Paradieses
Teil 1
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Inhaltsverzeichnis
Titel Matthias Hahn Wächter des Paradieses Teil 1 Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Ein ungewöhnliches Arbeitsessen
2. Von Professoren und Privatdozenten
3. Gothic-Disco im Memphiskeller
4. Zeichnungen und Fresken
5. Die Reise nach Edirne
6. Der Kuss des Engels
Impressum neobooks
1. Ein ungewöhnliches Arbeitsessen
Der kalte Luftzug brachte den General zum Frösteln. Oder war es die Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens, die ihm den Schauder über den Rücken jagte? Er blickte auf das Schwert in seiner Hand. Dann nickte er den anderen zu und betrat das Schlafgemach. Sein Opfer lag auf dem Boden. In frommer Askese hatte der Kaiser von Byzanz die Weichheit des Bettes verschmäht und sich auf einem Fell zum Schlaf ausgestreckt. Der General zögerte. Stumm bedeutete er den Verschwörern zu warten. Nicht zum ersten Mal tötete er einen Menschen. Er wusste nicht, wie viele Söhne der Hadith er in die Dschehennah geschickt hatte, wie viele Frauen und Kinder bei seinen Beutezügen ums Leben gekommen waren. Aber stets hatte es sich um Feinde gehandelt, um Ungläubige. Er hatte das Blutwerk im Auftrag des Allmächtigen ausgeführt. Der gute Zweck hatte das Töten geheiligt. Doch erfüllte er auch heute den Willen des Herrn?
Sein Opfer lag wehrlos vor ihm, noch schwerer aber wog: Er hob sein Schwert gegen den Kaiser der Christenheit, den Vertreter Gottes auf Erden. Es war eine Todsünde, ihn abzuschlachten.
Der General erinnerte sich. Einst war ihm der Herrscher ein väterlicher Freund gewesen. Der Kaiser hatte ihn das Handwerk des Befehlshabers gelehrt, hatte ihm gezeigt, wie man Soldaten für ihre grausame Arbeit begeisterte, wie man Tod und Verderben über die Hadithsöhne brachte. Seine Soldaten und sein Volk hatten ihn als Helden gefeiert, hatten ihn „den bleichen Tod der Sarazenen“ genannt. Doch jetzt hießen sie ihn nur noch „Mörder“. Fromm bis zur Askese, war der Kaiser hart geworden. Seine ständigen Kriegszüge im Namen des Glaubens hatten Armut und Hungersnot über seine Untertanen gebracht. Unruhen erschütterten die Hauptstadt, Steine flogen, wenn der Vertreter Gottes sich in der Öffentlichkeit zeigte, Schmährufe wurden ausgestoßen, wo immer man seine eindrucksvolle Gestalt erblickte. Der Kaiser aber beantwortete all diese Bekundungen des Unmuts mit den einzigen Mitteln, die er kannte: mit Härte und Grausamkeit. Kaum ein Tag verging, an dem er nicht eine neue Hinrichtung befahl. Doch damit fachte er die Wut der einfachen Leute nur noch heftiger an. Die Stadt stand kurz vor einem Aufstand, der das Reich in seinen Grundfesten erschüttern würde. War es nicht ihrer aller heiligste Pflicht, den Despoten zu beseitigen?
Der General blickte sich zu seinen Mitverschworenen um. Einige murmelten lautlose Gebete, um Jesus und die Apostel für ihre Tat um Verzeihung zu bitten, aber keines der Gesichter zeigte auch nur die geringste Spur von Mitleid. Nur Hass und Zorn konnte er in ihnen lesen, und grimmige Freude, dass der Tag der Abrechnung nun endlich gekommen war. Auch am Hof hielten nur noch wenige zum Tyrannen.
Die Kaiserin betrat das Zimmer. Wie jedes Mal, wenn der General sie erblickte, raubte ihre Erscheinung ihm den Atem. Theophanu war die schönste Frau des oströmischen Reiches. Einst war sie Schankdirne gewesen, in einer Taverne von recht zweifelhaftem Ruf. Dann hatte Romanos II., der Vorgänger des Kaisers, sie zu seiner Frau erhoben. Bald darauf war Romanos gestorben; um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, hatte Theophanu dem mächtigsten Befehlshaber des byzantinischen Heeres das Jawort gegeben und ihn somit zu Romanos’ Nachfolger erkoren. Doch nun …
Der General blickte in ihr Gesicht – auch dort konnte er nur Hass erkennen. Auch Theophanu hatte unter der brutalen Strenge ihres Gatten gelitten. Sie war es, die diese Verschwörung in die Wege geleitet hatte. Sie hatte den General zum Nachfolger des Kaisers erkoren. Sie liebte ihn, begehrte ihn mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie ihren Gemahl verabscheute.
Und der General liebte sie. Er würde alles geben, um seine Angebetete aus der Knechtschaft ihrer Ehe zu befreien, alles, um sich ihrer Liebe wert zu erweisen. Und genau das war es, was seine Tat zur Sünde degradierte. Sein innerster Antrieb war nicht, das Reich Gottes von der Gewaltherrschaft des Kaisers zu befreien, seine Motive waren von niedriger, eigennütziger Natur. Dafür würde er ewige Schuld auf sich laden, würde Höllenfeuer und Verdammnis auf sich ziehen. Er würde sich verachten, sein Leben lang; und auch Theophanu würde er verfluchen, nie wieder würde er ihr in die Augen blicken können, ohne an die heutige Bluttat zu denken.
Nun denn, es war zu spät, von dem Vorhaben abzusehen. Er nickte den anderen zu und hob seine Klinge. Die Verschwörer traten vor. Der Kaiser erwachte, von den Geräuschen geweckt, die die Stiefel der Attentäter verursachten. Er fuhr auf, sah die grimmigen Gesichter seiner Feinde, fasste nach dem Schwert, das sich stets in Griffweite befand. Da erblickte er das Antlitz seiner Gattin, die er über alles liebte, und die ihn nun verriet …
„Entschuldigung.“ Die Stimme einer Kommilitonin weckte Richard Kronau aus seinen Träumen.
„Kann ich mal den Ostrogorsky haben?“, fragte die recht korpulente junge Frau und deutete auf eines der Bücher, die auf Richards Arbeitstisch lagen.
„Aber natürlich“, murmelte Richard ein wenig unwillig und versuchte mühsam, sich in der Realität zurechtzufinden.
„Danke.“
Die Studentin griff sich den Wälzer und setzte sich an den Tisch vor Richards Arbeitsplatz.
Seufzend warf Richard einen letzten Blick auf die Beschreibung des Mordes an Kaiser Nikephoros in den Historien des Leon Diakonos, dann klappte er entschlossen den Band zu und verscheuchte die Bilder, die die Lektüre in ihm ausgelöst hatte. Es war nicht seine Aufgabe, sich längst vergangene Ereignisse auszumalen, er befand sich nicht im fackelbeschienenen Palast von Konstantinopel, und er hielt sich nicht im Jahr 969 auf, wo man für alle seine Taten und Untaten den Willen Gottes verantwortlich machen konnte. Man schrieb den 31. März 1990, und Richard saß im neonbeleuchteten Lesesaal der Universitätsbibliothek in Würzburg. Er war selbst für sein Handeln verantwortlich und musste sich dringend um seine Magisterarbeit kümmern, musste endlich herausfinden, wie er sich an sein Thema herantasten sollte.
Richard Kronau war Student der Byzantinistik, er befand sich inzwischen im dreizehnten Semester, und es wurde höchste Zeit, dass er sein Studium zu Ende brachte.
Er griff sich eines der Bücher, die er sich zu diesem Zweck an den Arbeitstisch geholt hatte: „Geschichtsschreibung im frühmittelalterlichen Byzanz“ von Paul Kaminski. Der Einband wirkte nichtssagend, das Buch strahlte dieselbe farblose Langeweile aus wie die meisten Werke im Lesesaal. Richard schielte zu dem Diakonos. Er spürte die Versuchung, den Kaminski zur Seite zu legen, bevor er ihn überhaupt aufgeschlagen hatte, um sich wieder mit der spannenden Beschreibung der unzähligen Bluttaten am byzantinischen Hof zu beschäftigen. Wieder sah er das bärtige Gesicht Kaiser Nikephoros’ vor sich, wie er seinen Tod in den Augen der Verschwörer las. Hatte Richard nicht vor allem deswegen Byzantinistik studiert, weil er mehr über die aufregenden Ereignisse dieser untergegangenen Epoche in Erfahrung bringen wollte?
Es nutzte nichts, er musste an seine Zukunft denken. Sein Thema lautete nicht: „Fantasien über den Putsch des Generals Johannes Tzimiskes“, es hieß „Ein neues Fundstück byzantinischer Mystik des frühen Mittelalters. Bezüge zu Texten von Autoren aus der Epoche der amorischen und der makedonischen Dynastie.“
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