War sein Gespräch mit seinem Alter Ego etwa ein erstes Anzeichen einer Midlifecrisis. Immerhin wurde er in drei Monaten vierzig. Packte ihn die Reue. Die Reue, sich gebunden zu haben, ein Teil von sich aufgegeben zu haben. Aber er fühlte sich doch wohl im Kreise seiner drei Kinder und seiner Frau. Vielleicht war es auch nur die ungewohnte Arbeit, die seinen ganzen körperlichen Einsatz erforderte. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste! Sich wieder voll auf die Aufgabe konzentrierend, begann er, hastig die Erde weiter zu durchwühlen. Da, endlich, ein erster leichter Widerstand beim Einstechen des Spatens. Er wollte tiefer graben. Doch wieder schoss ihm der letzte Krieg mit den zahlreichen Bombardements durch den Kopf. ’Quatsch!’ sagte er sich und grub weiter. Er setzte den Spaten etwas weiter rechts an und drückte ihn mit dem rechten Fuß kraftvoll ins Erdreich. Es ging. Nur beim Herausziehen des Spatens aus dem Erdreich hatte er große Mühe. Nachdem Kurt den Spaten freibekommen hatte, ging er etwa dreißig Zentimeter weiter nach links, um dort erneut zu graben. Widerstandslos senkte sich der Spaten ins Erdreich. ‚Aha, dazwischen muss das Ding liegen’, folgerte er und begann nun zielstrebig, den unbekannten Widerstand frei zu graben. Er grub weiter und weiter, bis er etwa eine Grube von einem halben mal einem Meter Ausdehnung mit einer Tiefe von dreißig Zentimetern ausgehoben hatte. Da war es endlich, das verdammte Ding. Zirka zwanzig Millimeter im Durchmesser und aus Stahl. Es sah aus wie Armier Stahl, den man beim Bau von Betonfundamenten benutzte. Doch wo waren die Enden. Im Moment sah es ganz so aus, als wären da gar keine Enden. Als würde sich dieser Rundstahl ganz um die Erdkugel gelegt haben, um sie zusammen zu halten. Wie lang konnte eigentlich ein handelsüblicher Armier Stahl sein? Kurt versuchte es ungefähr zwei Meter weiter nach vorn. Unter Berücksichtigung der Lage des freigelegten Stückes konnte er erahnen, in welche Richtung sich dieser Stahl gelegt haben könnte. Er hob die Erde dort, wo er einen weiteren Teil des Armier Stahls vermutete, aus und wurde in seiner Annahme bestätigt. Die eingeschlagene Richtung stimmte. Nur von einem Ende des Stahls war noch nichts zu sehen. Er grub Stück für Stück weiter, so, als wollte er einen Verbindungskanal ausheben. Und bei jedem Spatenstich war er in der Erwartung, nun das Ende des Übels gefunden zu haben. Aber erst nach gut drei Metern hatte Kurt es geschafft. Erleichtert, wenigsten ein Ende gefunden zu haben, schritt er die Länge des ausgehobenen Grabens ab, um zu ermitteln, wie weit er im schlimmsten Fall zur anderen Seite graben musste. Irgendwann hatte Kurt einmal gehört, dass handelsübliche Armier Stähle in sechs Meter Länge geliefert würden und auf der Baustelle dann auf das gewünschte Maß abgeschnitten würden. Da das Gelände, von dem Kurt einen Teil für das Anlegen eines Gartens urbar machen sollte, vom vorbesitzenden Bauunternehmer als Lagerplatz für sein Baumaterial genutzt worden war, ging er von der handelsüblichen Länge von sechs Metern aus. Dies bedeutete für ihn, dass er etwa noch zwei Meter in die andere Richtung graben müsste. Er maß die Strecke ab, um am Endpunkt eine Probegrabung zu machen. Vielleicht würde er, wenn unerwarteter Weise diese Strecke nicht ausreichend wäre, den Graben auf seiner ganzen Länge einfach wieder zuschütten, feststampfen und gegenüber Inge so tun, als ob alles klar sei. Doch seine Vermutung, dass es sich um handelsüblichen Armier Stahl handelte, wurde bestätigt. Hier war definitiv das andere, vermisste Ende des verschütteten Stahlstranges. Beflügelt von dieser Erkenntnis begann er, seine Ausgrabung zu Ende zu bringen. „Vatta“, rief sein Sohn Frank, der gerade mit seinem Fahrrad an der ‚Baustelle’ vorbei wollte, „bekommen wir einen Bachlauf über das Grundstück?“ ‚Keine schlechte Idee’, dachte Kurt. Die Größe für einen Bachlauf hätte das Grundstück mit seinen gut zweieinhalbtausend Quadratmetern sicherlich und zusammen mit einem großen Teich, in den der Bach hätte münden können, würde für Kurt ein beträchtliches Stück Urbarmachung entfallen. Der Bach könnte auch durch zwei Teiche fließen. Platz genug war vorhanden. Vielleicht würde er am Ende in eine Zisterne münden, um von dort wieder mit einer Pumpe in den ersten Teich gepumpt zu werden, um den Kreislauf erneut antreten zu können. Und zwischen beiden Teichen würde der Bach lustig plätschern dahin fließen. Denn ein leichtes Gefälle hatte das Grundstück auch. Technisch alles kein Problem. Und die Fläche, die dieses gesamte Wasserspiel beanspruchen würde, hätte nicht bepflanzt und gepflegt werden müssen. Vielleicht sollte er mit Inge einmal darüber sprechen. ‚Na, du Schlawiner, das hättest du wohl gern’, feixte es plötzlich aus dem Graben. ‚Vergiss es!’ Inge und Kurt waren nicht etwa schon von Geburt an gartensüchtig. Kurt war zwar leicht vorbelastet, doch Inge überhaupt nicht. Inge und Kurt hatten, als sie Singles waren, ansatzweise erste Bekanntschaft mit der Flora gemacht. Wie es zu jener Zeit, Ende der fünfziger Jahre, üblich war, wenn Geburtstage oder sonstige wichtige Tage anstanden, die irgendjemanden zum Schenken verpflichteten, wählten die Schenkenden meist etwas Praktisches aus. Inge bekam aus solch einem Anlass eine Aloe aristata und Kurt einen Echinocactus grusonii. Beide Kakteenarten waren leicht zu behandeln. Sie standen unauffällig und äußerst pflegearm auf irgendeinem Untergestellt oder in der Fensterbank. Bis sie vergessen wurden. ‚Ach, du meine Güte, mein Kaktus sieht aber traurig aus’. Nur eine Ausrede, denn eigentlich waren beide froh, auch noch die kleine Verantwortung für das stachelige Grün, nämlich einmal ganz wenig gießen in der Woche, los zu sein. Der erste Bezug zur Flora für die beiden damaligen Singles war beendet. Die beiden Exoten hatten sich geschrumpft zurückgezogen. Sie waren, enttäuscht über ihre Besitzer, im Stich gelassen worden zu sein, zerknittert und verbittert in sich zusammengesunken. Sonst und im Allgemeinen war die Natur für Inge und Kurt überwiegend als ein Ort sinnlicher Stimulation mit anschließender praktischer Umsetzung vertraut. Mit dem ersten eigenen Zuhause nach der Vermählung hatte sich die oberflächliche Einstellung gegenüber blühenden und sprießenden Gewächsen jedoch geändert. Das neue Zuhause befand sich in einer Kleinstadt, die nahe der holländischen Grenze lag. Es war eine ländliche Umgebung. Jeder kannte jeden und jeder konnte also über jeden etwas berichten. Die Wohnung, die das junge Paar angemietet hatte, hatte einen großen Balkon und ringsherum ein stabiles, handgeschmiedetes Geländer. Während für Kurt der Liegestuhl auf dem Balkon vollkommen ausreichend gewesen wäre, wollte Inge den Balkon gestalten. Sie hatte Kurt klar gemacht, dass ein Balkongeländer auch daran angehängte Blumenkästen benötigte. Und das diese Blumenkästen selbst-verständlich auch bepflanzt werden müssten. Dicht an dicht mit Geranien in hängender und stehender Ausführung. Dazwischen Efeu mit kleinen Blättern. Vielleicht noch ein paar Fuchsien dazwischen. Und so nach und nach und mit der flächigen Zunahme der Möglichkeiten, etwas anpflanzen zu können, hatte Inge ein Gespür entwickelt, wo was zu pflanzen sei, wie der Boden vorzubereiten sei, und wie Kurt in diese ganzen Planungs- und Arbeitsabläufe einzuplanen sei. „Sag mal, Vatta“, fragte Frank, als er von der Garage am Ende des Grundstückes, wo er sein Fahrrad in der Zwischenzeit untergestellt hatte, zurück kam, „was soll das eigentlich werden, was du da machst?“ „Mutter möchte, dass ich die Stücke des Grundstücks, die noch nicht urbar sind, urbar mache, damit sie bepflanzt werden können.“ „Womit?“ „Das weiß ich nicht!“ „Und warum machst du es dann?“ Kurt staunte nicht schlecht über diese nicht zu widerlegende Logik seines vierzehnjährigen Sohnes.
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