Sarah ergriff das Wort.
Das bedeutet, wir können über die Breite des Werkzeuges keine Aussage machen? Gibt es Hinweise auf die Beschaffenheit oder Form, vielleicht den Schliff?
Schwarz musste verneinen
Leider nicht. Das hat zwei Gründe. Erstens ist das Gewebe, wie schon erwähnt, bereits zu stark angegriffen, als dass man Rückschlüsse auf Form und Schliff ziehen könnte. Und dann, und da muss ich sagen, haben wir ziemlich Pech, hat der Täter mit der Waffe weder Knochen noch Knorpel getroffen. Dort hätte er sonst Spuren hinterlassen, die uns unter Umständen weiter geholfen hätten. So aber hat er nur weiches Gewebe durchtrennt.
Sie sagten ja eben, dass der Täter über enorme körperliche Kräfte verfügt. Könnte die Wunde auch mit Gewalt gerissen worden sein, zum Beispiel mit einem Schraubenzieher oder etwas in der Richtung?, wandte Sarah ein.
Nein, soweit reichen die Spuren im Gewebe dann doch aus, um das auszuschließen, antwortete Schwarz. Außerdem: sehen Sie sich die Wunde an, sie ist über die komplette Länge fast gleichbleibend tief. So etwas bekommen Sie nur mit etwas von der Schärfe eines Sushimessers hin. Das menschliche Gewebe ist in diesem Bereich zu weich und auch zu dehnbar, als dass man eine solche Wunde mit etwas weniger Scharfem verursachen könnte!
Thomas trug die Fakten zusammen.
Das bedeutet, wir haben eine Mordwaffe, die etwa 14 bis 18 Zentimeter lang und auf jeden Fall spitz ist. Auf mindestens einer Seite besitzt sie außerdem eine extrem scharfe Schneide. Da kommt ja nur ein Messer in Frage!
Schwarz überlegte nur einen kleinen Augenblick.
Wenn ich mich festlegen sollte, ja, ein Messer. Dafür sprechen auch die folgenden Wunden. Sie erinnern sich, dass ich keine Fingerabdrücke nehmen konnte? Die Chance wäre bei dem allgemeinen Zustand der Leiche schon relativ gering gewesen, aber der Täter hat es ganz bewusst unmöglich gemacht.
Schwarz griff nach dem Handgelenk des Toten und drehte den Arm, der flach neben dem Körper auf dem Edelstahltisch lag, so, dass Sarah und Thomas die Handinnenflächen und die Finger sehen konnten. Obwohl die Verwesung auch hier bereits deutliche Spuren hinterlassen hatte, war auch für einen Laien leicht zu erkennen, dass an den Fingerkuppen erhebliche Verstümmelungen stattgefunden hatten.
Wie Sie sehen, fehlt an den Fingerspitzen erheblich mehr Gewebe, als sich durch die beginnende Verwesung erklären ließe. Der Täter hat unserem kleinen Freund hier die Fingerkuppen abgeschnitten. Nicht, wie in Mafiafilmen, das komplette erste Glied, sondern nur das Fleisch. Auch dafür muss er ein sehr scharfes Messer benutzt haben.
Schwarz gestattete Sarah und Thomas einen längeren Blick und legte dann den Arm wieder auf den Seziertisch.
Das ist ja grauenhaft!, entfuhr es Sarah.
Meinen Sie, er wurde gefoltert?
Schwarz und Thomas schüttelten beide den Kopf. Der Mediziner ließ Thomas den Vortritt mit seiner Interpretation.
Wenn nur eine geringe Anzahl an Fingerkuppen fehlen würde, könnte das auf eine Folter oder gezieltes Quälen hindeuten. Aber da alle zehn fehlen, würde ich stark vermuten, dass der Grund für die Verstümmelung einzig in der Erschwerung der Identifizierung zu suchen ist und diese postmortal stattgefunden hat.
Schwarz bestätigte das.
Medizinisch kann ich das nicht eindeutig sagen, aber es passt ins Bild: der abgelegene Fundort, keine Papiere, keine Kleidung. Der Täter wollte es uns wirklich nicht leicht machen!
Und weiter erschwerend ist die Tatsache, fügte Thomas hinzu, dass er auch hier nur durch weiches Gewebe geschnitten hat. Ob er mit Absicht vermieden hat, mit seinem Werkzeug Knochen zu treffen?
Er zuckte mit den Schultern.
Behalten wir diesen Zufall mal im Hinterkopf. Haben Sie in der Umgebung der verschiedenen Wunden Fremdblut oder andere Spuren feststellen können?
Sie meinen, falls sich der Täter im Umgang mit dem scharfen Werkzeug selbst verletzt hat? Nichts Offensichtliches. Aber selbstverständlich habe ich die üblichen Abstriche gemacht, auch um und in der Wunde. Das Labor untersucht auf mögliche Fremd-DNA. Diese Ergebnisse stehen aber noch aus. Ebenso die pharmakologischen Befunde. Auch wenn die Todesursache hier offensichtlich ist, habe ich die Standardtests veranlasst.
Er sah auf die Uhr an der Stirnseite des Raumes.
Mit sehr viel Glück bekommen wir da heute noch etwas, aber ich rechne nicht vor morgen früh damit. Die DNA-Tests dauern noch bis mindestens übermorgen.
Wir haben also ein bis etwa 18 Zentimeter langes, superscharfes Messer.
Thomas schloss das Thema Mordwaffe ab und nahm seinen letzten Schluck Kaffee.
Aber zurück zur Todesursache: ist er verblutet?
Das ist anhand der Größe und der Art der Wunde wahrscheinlich. Der Stich beziehungsweise Schnitt hat, das haben Sie vorhin sehen können, in einem aufwärtsgerichteten Winkel stattgefunden. Etwa 40 Grad. Der Einstich trifft Magen und linken Lungenflügel. Dann durchtrennt er, indem er die Waffe nach rechts führt, die Aorta und landet schließlich in Leber und rechtem Lungenflügel. Das hatte, neben der Aortaruptur, einen doppelseitigen Pneumothorax zur Folge. Die Lunge kollabiert, das Opfer kann nicht oder nur äußerst schwer atmen. Gleichzeitig schießt das Blut mit einem daumendicken Strahl aus dem Körper. Ob er letzten Endes erstickt oder verblutet ist, ist hier nicht von Relevanz, denke ich. Aber mit allergrößter Wahrscheinlichkeit verblutet.
Thomas und Sarah sahen sich die Verletzung noch einmal genau an, während Schwarz wie zuvor das Gewebe vorsichtig auseinanderhielt. Nach einigen Augenblicken richtete sich Sarah wieder auf und blickte etwas skeptisch in ihre Kaffeetasse. Schließlich nahm sie nach einigem Überlegen doch einen Schluck, den sie allerdings eher herunterzuwürgen schien, als ihn wirklich zu genießen. Thomas, der ihr Zögern ein wenig belustigt mitverfolgt hatte, wandte sich wieder Schwarz zu.
Haben Sie anhand der Spuren eine Theorie, wie es zu der Verletzung gekommen ist?, fragte er den Mediziner.
Ich habe über verschiedene Szenarien nachgedacht. Lage und Größe der Wunde, sowie die Richtung des Einstichs und der darauffolgenden Bewegung des Tatwerkzeuges, lassen für mich aber eigentlich nur einen Tathergang zu, sagte Schwarz, nachdem er Handschuhe ausgezogen und in einen Mülleimer unter dem Seziertisch geworfen hatte.
Der Täter, Rechtshänder und ein ordentliches Stück größer als das Opfer, kommt von hinten. Er sticht dem völlig ahnungslosen Kontrahenten vorne links vom Brustbein unter den Rippenbogen.
Schwarz stellte sich hinter Thomas und demonstrierte mit bloßer Faust die Bewegung.
Der Stich ist nach oben gerichtet und dringt aufgrund der Länge der Tatwaffe sehr weit in den Brustkorb ein, trifft die Lunge. Dann reißt er das Messer mit einer sehr kräftigen und schneidenden Bewegung unterhalb des Rippenbogens nach rechts und vergrößert so die Verletzung um ein Vielfaches.
Schwarz fuhr die Bewegung auf Thomas Körper nach.
Jetzt hat das Opfer keine Chance mehr. Die Lunge kollabiert augenblicklich, die Aorta ist durchtrennt, der Tod tritt innerhalb zwei, maximal drei Minuten ein.
Thomas löste sich aus Schwarz’ Griff und stellte sich hinter ihn.
Und wenn der Täter unserem kleinen Freund die linke Hand auf den Mund gelegt hat und ihn nach dem Stich zum Beispiel mit dem Knie, entgegen seiner natürlichen Schmerzreaktion, ins Hohlkreuz gezwungen hat – Thomas drückte Schwarz das Knie in den Steiß und hielt ihn, während sich dieser unweigerlich nach hinten krümmte, mit beiden Händen fest – dann hat die Wunde weit geklafft und das Kollabieren der Lunge ging so schnell, dass er keinen Ton rausgebracht hat, richtig?
Thomas ließ Schwarz los, der mit übertriebener Theatralik beide Hände an die Lendenwirbel legte und über seine Bandscheiben zu lamentieren begann. Dann lächelte er die doch leicht erschrockene Sarah verschmitzt an und wandte sich Thomas zu. Er brauchte nur einige Sekunden Bedenkzeit, um mit einem Nicken zu bestätigen.
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