Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze
Claudia Paal
Nach einer fast wahren Begebenheit.
Schnurrend lag sie am Kamin während ihr Benny über das Fell strich. So ließ sie es sich gefallen, die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze. Sie rollte sich zusammen und streckte sich wieder auseinander. Benny mag sie wegen ihres erhabenen Ganges, dachte sie. Und natürlich wegen ihrer weißen Schwanzspitze. Die ist schließlich das Schönste an ihr, bildete sie sich ein.
Jeden Nachmittag, wenn Benny aus der Schule kam, ließ sich die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze mindestens eine Stunde von Benny streicheln und bürsten. Manchmal auch länger. Sie wollte, dass ihr schwarzes Fell nur so glänzte, dann würde auch die Schwanzspitze besser zum Vorschein kommen. Danach musste Benny Hausaufgaben machen. Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze machte einen krummen Rücken. Ihr war langweilig. Andere Katzen fingen Mäuse. Doch sie nicht. Ihre weiße Schwanzspitze könnte schmutzig werden. So beschloss die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze auszugehen.
Als Erstes traf sie den faulen Pfau. Er lag in der Ecke und betrachtete eine seiner Federn, die er verloren hatte. „Sie ist sehr schön“, sagte die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze. „Meine Großmutter hat sich eine solche Feder gewünscht. Ihre sind nicht mehr so farbenfroh“, sagte der Pfau. „Ja, das sehe ich ein“, sagte die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze. „Ich hoffe, sie holt sie bald ab.“
„Warum bringst du sie ihr nicht?“ „Es ist zu weit.“
Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze kam am Bach vorbei. Hier traf sie die graziöse Gans, die aufrecht versuchte, Wasser zu trinken. „Du musst deinen Kopf schon tiefer beugen“, riet sie ihr.
„Nein Katze, dann wird mein Haupt nass.“ Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze verstand und war schon wieder mit sich selbst beschäftigt. „Heute glänzt meine Schwanzspitze besonders!“
Die graziöse Gans nickte.
Weiter abwärts am Teich traf sie auf den schönen Schwan. „Schau nur, wie schön weiß mein Gefieder ist. Gefalle ich dir, Katze?“ „Ja durchaus“, gab die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze zu. Schnell schwamm der Schwan weiter, denn am anderen Ufer hatte er eine Kinderschar erblickt. Alle sollten sehen, wie schön er war und so zog er seine Kreise schlangenförmig über das Wasser.
Auf einem Ast an der Uferböschung saß der unruhige Uhu. Er drehte seine goldene Taschenuhr geschäftig hin und her. „Katze, wie die Zeit vergeht!“ „Nimm dir doch einmal eine Auszeit“, erwiderte die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze. „Katze, du mit deinen gut gemeinten Ratschlägen. Ich kann mir keine Auszeit leisten. So wie du hier rumschlenderst und deine Schwanzspitze zeigen kannst. Ich muss noch hierhin und dorthin. Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll. Immer diese Tretmühle, immer dieser Stress. Aber ich kann nichts dagegen tun“, sagte der Uhu und mit einem Flügelschlag war er weg.
Die Katze ging weiter abwärts und kam vorbei am eitlen Erdmännchen. Das eitle Erdmännchen betrachtete sich im Fluss. „Katze, kannst du mir nicht demnächst einen Spiegel mitbringen? Das Wasser bricht das Bild, so sehe ich mich nicht in meiner ganzen Pracht.“
„Ich kann schauen, wenn Benny in der Schule ist, ob ich einen in seinem Zimmer finde.“ „Das wäre grandios! Denkst du, es sollte ein goldener Spiegel sein, damit mein Teint besser zu Geltung kommt?“, fragte das eitle Erdmännchen. „Wir werden sehen, was sich findet“, sagte die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze.
Das charmante Chamäleon wartete bereits auf die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze. Es war ihr bester Freund, denn die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze mochte das, was das charmante Chamäleon sagte. „Hey Katze, ich sah es schon von weitem, heute glänzt dein Fell besonders gut. Und die Schwanzspitze erst!“ Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze hob ihren Schwanz noch etwas mehr in die Höhe. „Hat dich dein Menschenkind wieder gestriegelt?“ Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze freute sich über das Kompliment. Gerne hätte sie sich noch weiter mit dem charmanten Chamäleon unterhalten doch da kam auch schon der klavierspielende Kater angelaufen.
„Katze, ich möchte dir mein neues Stück vorspielen! Du musst unbedingt vorbeikommen und es dir anhören!“ „Ja, das würde ich gerne.“ „Komm am besten am Montag vorbei, bis dahin habe ich es bis zur Perfektion geübt. Und danach essen wir gemeinsam Kaviar und Lachs.“ Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze war begeistert von der Aussicht darauf.
Kurz bevor am Morgen der Wecker klingelte, hörte Benny das Quietschen der Autoreifen. Als er aus dem Fenster sah, konnte er noch nichts erkennen, die Dämmerung versperrte ihm die Sicht. Er lief am Korb der schwarzen Katze mit der weißen Schwanzspitze vorbei. Vor der Schule pflegte er sie noch zu bürsten. Aber der Korb war leer. Doch dann ein Poltern. Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze huschte durch die Katzenklappe. Benny glaubte kaum seinen Augen zu trauen.
Die weiße Schwanzspitze war abgeknickt und hing herunter. „Ein Auto hat sie erwischt“, sagten seine Eltern. Benny weinte. Die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze gab keinen Mucks von sich. Ihr Stolz war angeknackst. Auf dem Weg zur Schule weinte Benny immer noch. Er erinnerte sich noch genau, wie er mit seinen Eltern die schwarze Katze mit der weißen Schwanzspitze aus dem Tierheim geholt hatte. Er hatte sie selbst ausgesucht. Zu Hause angekommen, hatte die Nachbarin kopfschüttelnd in den Korb geschaut. Sie hatte ein ängstliches schwarzes Bündel erblickt. „Was wollt ihr denn mit einer schwarzen Katze?“ „Sie hat eine weiße Schwanzspitze“, hatte Benny schnell erwidert. „Eine schwarze Katze mit einer weißen Schwanzspitze?“ „Sie ist eben etwas Besonderes.“ „Am Ende habt ihr sie nur wegen ihrer weißen Schwanzspitze mitgenommen.“
Benny war traurig geworden. Diese Frau in ihren Gesundheitsschuhen sollte an der schwarzen Katze mit der weißen Schwanzspitze nicht herummäkeln. Nun hielt sie die Schwanzspitze nicht mehr stolz empor. Die weiße Schwanzspitze schleifte müde am Boden. Die schwarze Katze mit der weißen, abgeknickten Schwanzspitze legte sich schlafen. Sie schlief drei Tage lang. Dann brachte Benny sie mit seinen Eltern zum Tierarzt. Während er im Wartezimmer wartete, wippte er aufgeregt mit den Beinen. Immer wieder auf und ab. „Sie hat Schmerzen“, sagte der Tierarzt. „Und nun?“ „Beobachten Sie sie weiterhin.“
Vorsichtig fuhren sie die schwarze Katze mit der abgeknickten weißen Schwanzspitze nach Hause. Wieder hörte Benny die Gesundheitsschuhe über den Flur stapfen. Er schob konzentriert den Katzenkorb die Stufen hinauf. Die schwarze Katze mit der abgeknickten weißen Schwanzspitze hatte sich das Laufen abgewöhnt.
Drei Tage beobachtete Benny die schwarze Katze mit ihrer weißen Schwanzspitze. Sie fraß nur wenig. Wieder brachte er sie besorgt zum Tierarzt.
„Sie hat Schmerzen“, sagte der Tierarzt abermals. „Das wissen wir bereits!“, entgegnete die Mutter ungehalten. „Was bedeutet das für uns?“, erkundigte sich der Vater beunruhigt. „Die Schwanzspitze muss ab.“ Die Mutter blickte den Arzt fassungslos an. „Es wäre das Beste. Für die Katze.“ „Für die Katze“, wiederholte die Mutter. „Überlegen sie es sich.“ „Tun sie, was das Beste ist“, entschied der Vater schließlich. Als die Familie nach Hause kam, ließ das Stapfen auf dem Flur nicht lange auf sich warten: „Wie geht es der Katze?“
„Sie erholt sich“, antwortete Benny zuversichtlich. „Ihr habt auch nie großes Glück mit euren Katzen.“ „Es geht ihr gut“, sagten die Eltern.
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