Dafür lebte die eine Großmutter später mit einem neuen Mann. Der war ein hand fester Bauer. Seine Hände hatten in der Kriegsgefangenschaft gelitten, waren rissig geworden vom Baumwollpflücken für die Amis. Er schonte sie nicht. Auch das beeindruckte mich. Ich wünsche oft, ich hätte die anderen beiden Großväter gekannt. Aber wenigstens haben sie mir etwas vererbt – ihre Hände. Ich habe auch vier. Mindestens. Und schone sie nicht.
Lindgard Wolters, Tuttigeigerin
Da kommt er. Der Stardirigent! Dass ich das noch erleben darf, in meinem vorletzten Dienst!
Sir John Weakland. Klein, aber drahtig, im lässigen Leinenanzug. Heute in Zivil, wie alle hier. Er hat mit uns gearbeitet, gestern noch mal ganz intensiv, und morgen ist es so weit. Für ihn, für uns alle. Und für mich.
Ich sehe ihn im Profil. Er hat eine markante Nase, etwas grobporig, aber wunderbar runde Ohren, richtige Musikerohren.
Die Orchestermanagerin schiebt sich heran. „Bitte!“ Er tritt freundlich zur Seite.
„Ich habe Ihnen zwei Mitteilungen zu machen: Erstens, wir freuen uns, dass Herr Ling Chi einen Vertrag mit unserem Klangkörper bis 2018 unterschrieben hat.“
Applaus von hinten, von den Pauken und Becken, während die Streicher mit ihren Bögen auf die Pulte tippen.
„Außerdem wird Frau Lindgard Wolters morgen ihren letzten Dienst bei uns bestreiten. Nach der Aufführung soll es deshalb einen kleinen Sektempfang im Café Dyonisos geben. Dazu sind alle herzlich eingeladen!“
Der gleiche Applaus wie vorhin, nur dass einige zu mir schauen, eher verstohlen. Ich hantiere mit meinem Kolophonium.
Heute ist mein Abschied, nicht morgen beim Empfang. Diese Pflichtübung werde ich, so schnell es geht, hinter mich bringen. Wer möchte, kann ja danach zu mir kommen, mit 'ner Weinflasche unterm Arm.
Und auch nicht beim Konzert morgen ist Abschied. Da geht es nicht um mich, da geht es um die Musik. Morgen wird es wieder stimmen, das Wort vom KLANGKÖRPER.
Heute schaue ich mit Wehmut in die Runde und verabschiede mich tatsächlich. Und keiner wird es merken.
Schostakowitsch, 8. Sinfonie. Durchlauf, erster Satz. Für die meisten ist schon wieder Tagesordnung. Solche Ansagen wie vorhin erzeugen keine Unruhe. Wechsel gibt es halt, pro Jahr zwei bis drei.
Die Oboe klingt etwas dünn. Alles klar! Mitterecker hat das falsche Blatt genommen. Das passiert ihm regelmäßig, zum Glück spielt er nur die Zweite. Corinna spielt ohnehin für beide, sie beschreibt ausladende Bewegungen bei ihrem Solo, ihre Ohrringe schaukeln gefährlich vor und zurück. Sie war meine wichtigste Stütze, als ich ständig ausfiel, gab mir Adressen von Ärzten, die als Spezialisten bekannt sind. Aber letztlich kam keiner dagegen an. 90 Prozent aller Rückenleiden sind psychosomatisch, stand im vorletzten Heft meiner Krankenkasse. Und was nützt MIR das?
...ich hatte gern noch mal dreiundneunzig, Takt dreiundneunzig, die Hörner auch auf zwei und nicht so verschieden wie eben...
Die Hörner, sehen kann ich sie ja nicht, sie sitzen seitlich von mir, links. Und doch weiß ich, dass sie lässig auf ihren Stühlen lümmeln, bis auf Thibaut, der sitzt immer vornüber gebeugt und hält sein Instrument fest an der Brust, als könnte es verloren gehen. Thibaut kann mich gut beobachten, und ich weiß, dass er es auch tut.
Ein einziges Mal hat er mich zum Kaffee eingeladen, gleich nach der Probe, und dann war er so schüchtern, dass er nicht wusste, worüber er reden sollte.
Manchmal brennt sein Blick regelrecht. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Schließlich ist er ja kein Unsympath.
...hundertneunundzwanzig sind mir die Geige zu loud, das ist ein Diminuendo, schreiben Sie sich das ein, das geht die ganze Takt...
Ganz im Gegensatz zu Jonda! „Chonda heiß ich!“, das ist ihm wichtig. Jeder wird verbessert, der ihn falsch ausspricht. Breitbeinig lehnt er auf seinem Stuhl, die Füße weit von sich gestreckt, als ob er dem Dirigenten ein Bein stellen wollte. Die Hemden sind rot, orange oder gelb, die obersten Knöpfe natürlich offen.
...vor allem in zweihundertzweiundsiebzig, da tata tatatata, das Staccato hier noch schärfer, aber nicht louder werden...
Jonda spielt zweite Geige, erstes Pult rechts. Jetzt steht er mal wieder auf, kritisiert die Celli, dass sie geschleppt haben, und Weakland stimmt ihm auch noch zu!
Diesen Macho werde ich am wenigsten vermissen. Als ich noch am zweiten Pult war, konnte ich ihn immer riechen. Adidas, glaube ich, aber so genau kenne ich mich nicht aus. Ronald, mein Mann, nahm kein Parfüm, und das war mir recht.
Jonda ist spitz auf den Konzertmeisterposten, das sagen alle. Als Colby nach Melbourne ging und die Stelle plötzlich frei wurde, riet mir Corinna, ich solle unbedingt auch vorspielen, aber just in der Zeit fing es an mit den Rückenschmerzen. Natürlich nahm ich das nicht so ernst. Viele Geiger haben Probleme. Bis ich eines Morgens nicht mehr aus dem Bett kam.
Ronald war nicht zu Hause, nach meiner Zählung dürfte es die dritte Affäre in unserer Ehe sein. Und ich hatte die Organisation am Hals, wo die Kinder hin konnten, wenn ich abends zum Dienst fuhr
....okay, noch mal dreihundertzehn, aber jetzt weiter, ich will die Holz hören, die Piccolo musste noch mehr geben...
Dieser Weakland hat Ausstrahlung. Das muss man ihm lassen. Wenn er mit der Linken ein Crescendo angibt und dabei ganz langsam die Hand öffnet, sieht es aus wie eine Lotosblume. Die „Pauke“ da hinten erkennt das wahrscheinlich gar nicht, aber es funktioniert!
Die Pauke! Alle nennen ihn so, und er beschwert sich nicht. Wenn er nicht dran ist und nicht sein Instrument stimmt, dann spielt er mit seinem Handy. Oder vielleicht schreibt er SMS. Schlagzeuger haben so eine Art Narrenfreiheit. Wie in der Schule auf der hintersten Bank.
...und jetzt den zweiten Satz, die Bässe an pizzicato denken, bitte...
Ganz vorne, die zwei Kontrabässe, die sind fast wie ein Pärchen! Die zierliche Schmidten und der hünenhafte Tarsson. Manchmal stoßen sie mit den Instrumenten zusammen, und dann gibt’s Gelächter. Diese so unterschiedlichen Menschen haben es geschafft, ihre Bewegungen fast vollständig zu synchronisieren. Sie muss beim Zupfen regelrechte Reißbewegungen vollführen, während er wahrscheinlich nur seinen Zeigefinger krümmen müsste. Trotzdem schwingt er mit ihr mit. Es sieht wie ein Tanz aus. Manche Kollegen munkeln, dass die beiden wirklich zusammen seien, aber keiner weiß was Genaueres.
...ab dreiunddreißig war grottenschlecht, das müssen wir noch mal machen. Und jetzt together, nicht jeder einzeln...
Manchmal hatte ich ja auch davon geträumt, einen Musiker zum Mann zu haben. Dann hätte es sicher keine Diskussionen gegeben, wer wie viel arbeiten darf. Der Dienstplan stünde fest, oft schon Wochen im Voraus, und der Rest wäre einfach Absprache, mehr nicht.
Belinari zum Beispiel, der hätte es sein können. Wahnsinnig schöner Mann, ganz feine Züge, zarte Nase. Und immer solche weichen Hemden, vermutlich Bourrette-Seide. Die Haare fast bis auf die Schulter. Ich habe ihn gut im Blick. Er spielt Cello, zweites Pult, so wie ich damals bei den Geigen. Versteht sich bestens mit seinem Pultnachbarn.
...stop, stop, stop, ihr übertönt ja die Holz …
Die blitzen sich manchmal an, die beiden Kerle. Das war schon ein Schock für mich, als ich mit ansehen musste, wie sein Freund ihn abgeholt hat. Von dem Augenblick an war mir klar: Der steht auf Männer. Und ist wahrscheinlich fest gebunden. Was ihn nicht abhält, mit seinem Pultnachbarn zu flirten. Für mich hatte er nie einen Blick. Das war schlimm, aber andererseits auch ganz gut so. Wirklich anbändeln wollte ich mit ihm nicht.
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