«Dr. Wiederkehr behauptete, dass es eine Leiche gäbe. Ich bin mir sicher, er sprach von seiner Enkelin Lynn.»
«Scherzen Sie? Doch nicht etwa … Lynn Wiederkehr?! Das kann ich kaum glauben. Lynn ist vor zehn Jahren spurlos verschwunden. Wäre es ein Einfaches gewesen, sie wiederzufinden, wäre dies längst geschehen.»
«Trotzdem sollten wir diesen neuen Hinweis ernst nehmen. Ich habe gehofft, Sie würden das unterstützen.»
«Verzeihen Sie, dass ich die Erfolgsaussichten in Frage stelle. Wir haben vor zehn Jahren jeden Stein in Bünzigen umgedreht. Unter keinem lag Lynn.»
Dann besann er sich: «Na gut, wenn es sein muss, Frau Fuchs, werde ich Sie begleiten. Wo genau soll die Leiche liegen?»
«So genau weiss ich das nicht. Dr. Wiederkehr sprach in Rätseln – er war ziemlich verwirrt. Wir sollen diesen Ort suchen: nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles .»
Pfiffner prustete laut heraus und meinte zynisch: «Gratuliere! Das ist ein hervorragender Hinweis! Zum Rätselraten schlage ich vor: suchen Sie eine Wahrsagerin auf! Wenn Sie Lynns Leiche nach dieser vagen Beschreibung finden wollen, wird es nach meinem Ermessen schwierig. Diese Naturbeschreibung passt in jeden der sechsundzwanzig Kantone der Schweiz. Ob die Leiche in Bünzigen, in der weiteren Umgebung oder gar im Ausland zu finden ist, hat Dr. Wiederkehr nicht zufällig erwähnt?»
So wenig es sich Pfiffner vorstellen konnte, dass sie aufgrund einer solchen Beschreibung eine Leiche finden würden - Fuchs vertraute ihrem guten Riecher und war überzeugt, mindestens einen Hinweis auf Lynn zu entdecken. Sie hatte es Dr. Wiederkehr versprochen. Und wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, wurde das mit aller Konsequenz durchgezogen.
«Hat er nicht, aber ich sehe auch nicht ein, weshalb wir beim weitest entfernten Ausgangspunkt beginnen sollten.»
«Mit dieser Beschreibung sehe ich die Suche als reine Verschwendung von Zeit an. Ich habe Wichtigeres zu tun.»
«Na ja, da bin ich mir nicht so sicher. Ich jedenfalls werde den Hinweis verfolgen. Zu einem Medium kann ich später immer noch gehen. Aber ich wäre sehr froh, wenn auch Sie die Sache ernst nehmen würden. Ich brauche Ihre Unterstützung!»
«Nun….» So sehr sich Pfiffner auch bemühte – von Ernsthaftigkeit war nicht die Rede. Dennoch rang er sich durch, immerhin gab es in der Landgemeinde nicht allzu viel Brisantes zu tun für den Dorfpolizisten.
«Okay, okay. Lassen Sie uns mittels Computer die möglichen Fundorte einkreisen. Schauen Sie auf diese Map und zeigen Sie mir, wo es im Kanton Aargau Felder, Wiesen…?» Er konnte das Grinsen nicht verkneifen. «Vielleicht springt uns da was ins Auge?»
«Gewöhnungsbedürftig für eine alte Dame wie mich. Ich brauche keine derartige Map. Verbrechen habe ich stets ohne elektronische Unterstützung aufgeklärt. Ich weiss, ich bin schrecklich unmodern, aber: Haben Sie eine Karte auf Papier – bitte mit grossem Massstab.»
Pfiffner runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass es der Detektivin ernst war. Er kramte in der untersten Schublade, fand schliesslich eine Karte der Umgebung – Bezirk Bremgarten - und gab sie der Detektivin.
Carla Fuchs überflog die Karte mit höchster Konzentration, es war, als wüsste sie genau, wonach sie suchen müsste. Ihr Ausgangsort war Bünzigen. Hier hatte Lynn gelebt und sich bewegt. Ihr Blick glitt auf einen grösseren Ausschnitt von Bünzigen in Richtung Schloss Hallwyl und kreiste anschliessend über ein Gebiet mit Feldern und Wiesen, bis sie sich auf eine Stelle fixierte. Mit dem Zeigefinger stiess sie wie ein Falke blitzschnell auf die Karte hinunter: Sie tippte einen Punkt an, etwa zwanzig Kilometer östlich vom Dorfkern. «Das ist der Beweis! Dr. Wiederkehr hat nicht fantasiert – er wollte mir einen Hinweis auf die Leiche geben. Jetzt sehen Sie doch hin!»
«Was soll hier sein?»
«Sind Sie wirklich so naiv? Das Moor hat in den 30er Jahren manches Tierleben geschluckt. In der Gegend gab es früher Überschwemmungen. Und hier – das Haus …»
«Verstehen Sie mich nicht falsch, worauf ich hinaus will: Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass die Leiche von Lynn hier liegen soll?»
«Dr. Wiederkehr sagte etwas wie nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles .»
«Die Gegend ist sumpfig. Bei starken Regenfällen gab es auch schon Überschwemmungen. Von daher könnte es hinkommen.»
«Unmittelbar nach diesem Haus beginnt ein Waldstück. Vom Dorf aus gesehen ist es die zweite grössere Waldfläche.»
«Vielleicht war Dr. Wiederkehr mehr bei Sinnen, als ich im ersten Moment dachte.»
Pfiffner checkte blitzschnell sämtliche Verzeichnisse, die ihm als Polizist zur Verfügung standen.
«Ich finde keinen Eintrag – auch nicht im Telefonbuch. Warten Sie – ich setze mich mit dem Grundbuchamt in Verbindung, um den Besitzer des Hauses in Erfahrung zu bringen.»
Kurz darauf wurde die Vorahnung der Detektivin bestätigt: das Haus gehörte Dr. Emil Wiederkehr.
Eine Stunde später.
«Lieblich schaut er aus, verwegen, Dornen vor dem Haus wachsen stark bis zum Dach … »
«Bitte?» Pfiffner drehte sich irritiert zur Detektivin um.
«Die letzten Worte von Dr. Wiederkehr.»
Die beiden standen vor der breit angelegten Einfahrt der Villa. Die Spitzen des schmiedeeisernen Tores waren vergoldet, den rechten Flügel zierte ein auffälliges Wappen, das ein Lamm zeigte. Kein Name stand unter der Klingel, niemand meldete sich. Doch das Tor war unverschlossen.
«Verwegen trifft es vollumfänglich», kommentierte Pfiffner den Wildwuchs trocken.
«Alles mit Unkraut überwachsen – der Garten wirkt mehr als vernachlässigt, seine Schönheit ist komplett verdeckt. Sehen Sie, die Buchshecken sind seit Jahren nicht mehr geschnitten worden.»
«In gepflegtem Zustand wären Haus und Garten ein Traum.»
«Der Garten ist Ausdruck der Seele. Daran gemessen muss etwas Schlimmes geschehen sein. Die Hausfassade ist von Hagenbutten regelrecht zugewachsen, überall Dornen bis hoch zum Dach. Ich erkenne den Ort, den Dr. Wiederkehr beschrieben hat.»
«Ja, vielleicht.» Pfiffner zögerte erst und meinte dann: «Schauen wir uns im Haus um.»
Mühelos knackte er das Türschloss. Kurz darauf standen die beiden in der kalten Eingangshalle. Wände und Decke waren von Spinnweben eingekleidet, überall lag Staub und die vertrockneten Pflanzen waren längst tot. Das Innenleben der Villa hinterliess einen rundum traurigen Eindruck. Auch die gerahmten Fotos an den Wänden waren verstaubt. Carla Fuchs erkannte Dr. Wiederkehr beim Angeln, auf einem anderen Bild war er mit seiner Frau Marie im gepflegten Garten zu sehen. Sie sassen an einem verschnörkelten weissen Gartentisch, umgeben von prachtvollen Blumen. Die beiden waren jung. Glücklich sahen sie aus.
Fuchs und Pfiffner schauten sich weiter um. Eine Holztreppe führte nach oben, eine andere nach unten. Carla Fuchs strich sich ihr Deux-Pièce glatt, wie sie es gerne tat, wenn sie ihre Gedanken ordnete. «Unten, da wo es dunkel ist … Das deutet auf den Keller hin.»
Die Treppe ins Untergeschoss knarrte bei jedem Schritt. Es wurde düsterer, Fuchs konnte kaum mehr ihren eigenen Arm erkennen. Sie tasteten sich durch das Dunkel, indem sie mit den Händen der Wand entlang glitten. Die Treppenstufen waren unregelmässig ausgetreten, und ein Geländer wäre kein Luxus gewesen. Sie waren erleichtert, als sie schliesslich unten angelangt waren, in einer Art Vorraum, der wohl gleichzeitig als Abstellkammer diente. Jedenfalls war nur ein kleiner Durchgang frei und Fuchs stiess trotz aller Vorsicht erst an einen Tisch, nachher kollidierte sie mit einem Stuhl. Doch weiter vorne drang unten am Boden ein Lichtschimmer durch: endlich ein Fenster, Licht! Die beiden sahen sich um.
Читать дальше