„Ich nehme dir nichts das wichtig ist. Deine Freunde sind schlecht! Schlechter als schlecht. Sie sind das grauen jeder sozialen Persönlichkeit. Sie ziehen dich runter!“ schrie sie.
„Ich habe deine Zeugnisse bereits hingeschickt und ein Telefonat mit dem Direktor gehabt. Es ist eine deutschsprachige Schule nach englischer Reform. Finde dich damit ab.“
Aber das kam überhaupt nicht in die Tüte. Mich damit abfinden? Einfach so? Niemals. Ich würde auf die Barrikaden gehen und das konnte ich nur zu gut.
Der nächste Morgen brach an. Ein Sonntag. Ein schrecklicher Sonntag.
Oma öffnete die Tür meines Zimmers. Sie schob drei Koffer in den Raum und weckte mich.
Dann öffnete sie die Flügeltüren meines Kleiderschrankes.
„Pack ein was du willst. Es ist mir egal. Das ist dein Gepäck für die ersten drei Monate. Los. Ich komme in drei Stunden wieder.“ sagte sie resigniert und ging wieder.
Ich sah, dass Kobold an ihr vorbei in mein Zimmer schlich. Mit seinen traurigen großen Augen, die seit dem Unfall kaum mehr gelächelt hatte sah er mich an.
Er sah mich an als wüsste er, dass auch ich jetzt noch gehen würde. Als wüsste er, dass er noch jemanden verlieren müsste, den er liebte.
Ich nahm seinen großen, schwarzen Hals in meine Arme und weinte in sein dickes, warmes Fell.
Er war zwölf Jahre alt, ich wusste nicht, wie oft ich das einzige, das ich wirklich liebte, in meinem Leben noch sehen würde.
Ich saß bestimmt eine halbe Stunde in meinem Zimmer und weinte meinem Hund in sein Halsfell.
Er saß einfach nur da und wartete bis ich fertig war.
Dann setzte ich mich auf mein Bett und er stämmte sich neben mich.
Ich fasste an der Bettkante, die zur Wand hinzeigte herunter, unter das Bett und zog einen Fotokarton hervor.
Langsam schob ich den Deckel hinunter, als hätte ich Angst, dass all die Erinnerungen mich umhauen würden.
Ich stellte den Karton auf meinen Schoß, Kobold legte seinen Kopf auf meine Schulter und gemeinsam sahen wir uns Fotos an, Fotos aus einer Zeit in der noch alles gut war. In der wir noch zu dritt, zum Felsen gefahren waren und gebadet hatten, gezeltet und gegrillt hatten und einfach nur wir gewesen waren.
Ich saß da noch zweieinhalb Stunden. Meine Oma kam rein und sah mich an.
Sie wollte schreien und schimpfen, das sah ich ihr an. Bis sie bemerkte was ich in den Händen hielt und dass ich weinte.
Ich sah sie an, mit meinen rot unterlaufenen Augen und sie setzte sich an meine andere Seite. Dann sahen wir uns zusammen die Bilder an. Lächelten und erinnerten uns.
An den Tag meines vierten Geburtstags, an Kobold, der als Welpe über seine eigenen Ohren gestolpert war. Und an sie. An meine Mama.
Meine Oma strich über meine Haare, über Kobolds Fell und dann über das Foto in meiner Hand.
Darauf waren meine Mama und ich im Krankenhaus abgebildet. Ich drückte ihr das Bild in die Hand.
„Nimm es. Stell es auf den Kamin und versprich mir, dass du mich und sie niemals vergisst.“ sagte ich.
„Nein Marie das kann ich nicht annehmen. Das gehört dir, das ist für dich eines deiner wertvollsten Besitztümer. Behalt es bitte.“
Sagte sie und wollte es mir wieder geben.
Ich schüttelte den Kopf „Nein. Ich werde gehen und hab noch 249 andere Bilder. Nimm du`s. Und vergiss uns nicht.“
Sie strich mir übers Haar.
„Wie könnte ich euch je vergessen.“ sagte sie und wischte sich eine Träne von der Wange.
Ich packte. Nicht weil ich wollte, nicht weil ich musste, nicht weil ich keine andere Wahl gehabt hätte… Ich packte weil ich es versuchen konnte. Weil ich darin eine Möglichkeit sah, die Situation zu entschärfen. Sie zu entschärfen, bevor es richtig losgehen würde.
Es vergingen noch ein paar Tage bis ich ins Internat ging. Tage in denen ich mich von allen verabschieden konnte.
Ich fuhr fast jeden Tag an den Berliner Westbahnhof und traf sie.
Jeden Tag tranken wir ein paar Bier, schnupften ein bisschen Koks und rauchten ein paar Joints.
Aber die Zeit verging zu schnell.
Der erste September rückte immer näher, die gepackten Koffer wanderten jeden Tag weiter den Flur entlang in Richtung Ausgang. In Richtung Ende.
Meine Zeit in unserem kleinen Ort war besiegelt, abgelaufen, als hätte es sie nie gegeben, als wäre mein ganzes Leben, ohne jegliche Geschichte.
Ich wollte es nicht. Es brach mir das Herz, all meine Erinnerungen loszulassen.
All mein Leben hinter mir zu lassen.
Und IHR Grab hier zu lassen.
Dann fragt man sich wieder, was bringt einem ein solches Grab.
Nähe?
Vertrauen?
Hoffnung?
Ja das sagen die Menschen immer, wenn es um Friedhöfe geht.
Aber mir gab dieser Ort nichts.
Sie lag Tot unter der Erde, seit sieben Jahren.
Nähe konnte ich spüren, wenn ich in ihr, bis heute unverändertes, Zimmer ging.
Nicht auf dem Friedhof, an einem Grab mit ihrem toten Körper.
Vertrauen? Auf was denn? Darauf, dass ich irgendwann wieder bei ihr sein dürfte? Vertrauen in Gott, dass es die richtige Entscheidung war? Nein. Ich konnte niemandem vertrauen, der mir so wehgetan hatte. Geschweige denn an seine Existenz glauben.
Und warum Hoffnung? Hoffnung auf einen Himmel? Hoffnung auf ein richtiges System? Hoffnung auf ein Wiedersehen? Auf ein Leben nach dem Tod? Wozu? Wenn dort alles genau so scheiße war, dann wollte ich keines. Dann sollte es einfach vorbei sein.
Aber so etwas hatte ihre Seele nicht verdient. Sie war eine wundervolle Persönlichkeit. Sie hatte mich bekommen, trotz ihrer kompliziert nervigen Familie. Trotz ihrer unsicheren Beziehung, und trotz ihrer jungen Jahre, die sie hätte anders verbringen können, als damit ein Kind aufzuziehen. Sie hatte ein Leben nach dem Tod verdient.
Das alles würde hier bleiben. Und das war gut so.
Vielleicht war ein Neustart genau das was ich brauchte. Aber trotzdem würde es Krieg geben. Und diesmal würde meine gute Oma nicht gewinnen. Denn dieses Mal würde ich kämpfen bis zum bitteren Ende.
Es war der erste September.
Am dritten ging die Schule in England los und die ersten zwei Tage waren Kennenlern-Tage. Sowohl die Schule, als auch die neuen Mitschüler, sollten kennengelernt werden.
Wir sollten in London am Flughafen abgeholt werden. Die neuen aus Deutschland.
Meine Großeltern und Kobold standen am Gate und knuddelten mich abwechselnd.
Alle weinten, auch der Hund. Am meisten mein Opa. Dann zog ich meinen kleinen Koffer zur Tür und ging hindurch ohne mich noch einmal umzusehen.
Man soll nicht zurückblicken.
Im Flugzeug schob ich meinen Handgepäckskoffer in die Gepäckklappe, zog meinen I-Pod heraus, stöpselte ihn an und sah mir einen Film an.
Dann schnallte ich mich an, als die erste Stewardess vorbeilief und schob mir einen Kaugummi in den Mund. Ich wusste noch nicht, dass praktisch der halbe Flieger voller Brighton Studenten war, von denen ich einige noch näher kennenlernen würde.
Wir flogen drei Stunden.
Neben mir saß ein Mädchen, das mich prompt ansprach.
„Hast du deine neuen Klamotten schon bekommen?“ fragte sie mich mit einem schüchternen lächeln.
„Hä was?? Was willst du?“ fragte ich kopfschüttelnd und zupfte mir die Stöpsel aus den Ohren.
„Ob du deine Schuluniform schon bekommen hast, oder kriegen wir die erst in England?“ fragte sie mich mit neugierigen Augen.
Scheinbar sah ich für sie erfahren und informiert aus.
Aber das war ich nicht. Nicht im Geringsten.
„SCHULUNIFORM!!“ brüllte ich durch den gesamten Passagierraum.
Kurz starrten mich alle an. Dann widmeten sie sich wieder ihren Sitznachbarn oder Laptops.
„Ja natürlich. Das ist eine Eliteschule. Also hast du deine noch nicht bekommen. Hm.“ sagte sie nachdenklich nickend und fasste sich mit der Hand ans Kinn.
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