Im Frühling zeigte das Rukh nur wenig junges Grün, im übrigen lag es noch unberührt von dem Wandel des Jahres und wartete auf Regen. Mehr Rufen und Rühren war ringsum im Dunkel während der schwülen Nächte, das Getöse eines königlichen Kampfes zwischen Tigern, das Röhren eines stolzen Bockes oder das beständige Schaben und Wetzen eines alten Ebers, der die Hauer an einem Baumstamm schärfte. Dann legte Gisborne seine wenig benutzte Büchse ganz beiseite, denn Sünde schien es ihm, zu dieser Zeit ein Lebewesen zu töten. Wenn mit der sengenden Hitze des Mais der Sommer einsetzte und das Rukh unter dem glühenden Dunst zitterte, hielt Gisborne sorgsam Ausschau nach dem ersten Zeichen kräuselnd aufsteigenden Rauchs, der den Ausbruch des Waldbrands verriet. Dann brach in Strömen der Regen los, und das Rukh verschwand unter Schwaden auf Schwaden dampfenden Nebels; die ganze Nacht durch trommelten die Tropfen auf die breiten Blätter; man hörte das Rauschen von Wasser und das Wogen saftiggrüner Stauden, wenn der Wind hindurchstrich; und die Blitze woben Muster auf die dunkle Wand des Laubwerks, bis dann die Sonne das Gewölk wieder siegreich durchbrach und das Rukh unter dem reingefegten Himmel mit dampfenden Flanken stand. Später dann verblaßten die Farben unter der Hitze und Trockenheit, und alles wurde gelb wie das Fell des Tigers. So wurde Gisborne mit dem Rukh ganz vertraut und fühlte sich glücklich.
Jeden Monat traf regelmäßig sein Gehalt ein, aber er brauchte nur wenig davon. Das Geld bewahrte er in einem Schubfach auf, zusammen mit Briefen aus der Heimat und dem Zündkapseleinsetzer. Dort häuften sich mehr und mehr die Scheine, und wenn er von dem Gelde nahm, so geschah es, um etwas von dem Botanischen Garten in Kalkutta zu kaufen oder die Witwe eines im Dienst umgekommenen Hegers mit einer Summe zu unterstützen, die von der indischen Regierung beim Tod eines Beamten niemals bewilligt worden wäre.
Mit viel Geld ließ sich manches gutmachen, aber mitunter war auch Vergeltung angebracht, und er nahm sie, wenn es notwendig war. Eines Nachts kam ein Bote atemlos und keuchend angelaufen mit der Meldung, daß am Ufer des Kanjeflusses die Leiche eines Waldhüters läge, und sein Schädel wäre wie eine Eierschale eingeschlagen. Beim Morgengrauen machte sich Gisborne auf, um den Mörder zu suchen. Nur Reisende und hin und wieder junge Soldaten rühmten sich vor der Welt ihrer weidmännischen Taten. Für den Forstmann gehört »Schikar« – die »Jagd« – zur Tagesarbeit, und selten hört man etwas davon. Gisborne begab sich zu Fuß an den Ort der Mordtat; die Witwe wehklagte an der auf einer Bahre ruhenden Leiche, während drei bis vier Männer auf dem feuchten Boden nach Fußspuren suchten.
»Der Rote ist es gewesen«, erklärte einer der Männer. »Ich wußte es, daß er früher oder später den Menschen angehen würde. Und dabei gibt es reichlich genug Wild für ihn in den Wäldern. Das hat er nur aus Bosheit gemacht.«
»Der Rote lagert hoch oben in den Felsen hinter den Salbäumen«, antwortete Gisborne. Er kannte den Tiger, den er im Verdacht hatte.
»Nicht jetzt, Sahib, nicht jetzt. Er streift blutdürstig umher. Bedenke, daß ein erster Mord immer ein dreifacher ist. Unser Blut macht ihn toll. Vielleicht lauert er ganz nahe hinter uns, während wir reden.«
»Vielleicht ist er auch zur nächsten Hütte gewechselt«, sagte ein anderer. »Nur vier Koß liegt sie entfernt. – Walla, wer ist denn das?«
Gisborne und die anderen wandten sich um. Ein Mann kam das trockene Flußbett herabgeschritten, nackt bis auf das Lendentuch, aber gekrönt von einem Kranz von hängenden weißen Blüten der Winde; so geräuschlos schritt er über die Kiesel dahin, daß selbst Gisborne, der an den leisen Tritt der Fährtensucher gewöhnt war, zusammenschrak.
»Der Tiger, der mordete«, begann der Ankömmling ohne jeden Gruß, »ist zur Tränke gegangen, und nun schläft er unter einem Felsen hinter dem Hügel dort.«
Seine Stimme klang klar und glockenrein, ganz anders als das übliche Genäsel der Eingeborenen, und als er nun, von der Sonne umstrahlt, das Antlitz hob, hätte er ein Engel sein können, der sich in die Wälder verirrte. Das Wehklagen der Witwe über der Leiche verstummte; mit runden Augen starrte sie auf den fremden Mann und kehrte dann mit verdoppeltem Eifer zu ihrer Klagepflicht zurück.
»Soll ich dem Sahib zeigen?« fragte er schlicht.
»Wenn du sicher bist...«, begann Gisborne.
»Sicher, wahrlich. Erst vor einer Stunde sah ich ihn – den Hund. Er macht sich vor seiner Zeit an Menschenfleisch. Noch hat er ein Dutzend gesunder Zähne in seinem teuflischen Schädel.«
Die Männer, die nach den Fußspuren suchten, machten sich lautlos davon aus Furcht, Gisborne möchte sie zum Mitkommen auffordern; und der junge Fremdling lachte leise vor sich hin.
»Komm, Sahib, komm!« rief er, wandte sich um und schritt leichtfüßig vor seinem Begleiter her.
»Nicht so rasch. Mit dir kann ich nicht Schritt halten«, rief der weiße Mann. »Bleib stehen. Dein Gesicht ist mir neu.«
»Schon möglich. Erst vor kurzem bin ich in diesen Forst gekommen.«
»Von welchem Dorf bist du?«
»Ich bin von keinem Dorf. Von dort kam ich her.« Er wies mit dem Arm nach Norden.
»Ein Zigeuner also?«
»Nein, Sahib, ich bin ein Mensch ohne Kaste und daher auch ohne Vater.«
»Wie nennt man dich?«
»Mogli ist mein Name; und wie heißt der Sahib?«
»Ich bin der Wächter des Rukhs – Gisborne ist mein Name.«
»Wie? Werden die Bäume und Grashalme hier gezählt?« »Gewiß, damit fahrendes Volk wie deinesgleichen sie nicht in Brand steckt.«
»Ich! Um keinen Preis würde ich der Dschungel Schaden antun, meine Heimat ist sie.«
Mit einem unwiderstehlichen Lächeln wandte er sich Gisborne zu und hob warnend die Hand.
»Jetzt müssen wir leise auftreten. Sahib. Man braucht den Hund nicht vorzeitig zu wecken, wenn er auch tief genug schläft. Vielleicht wäre es besser, wenn ich allein vorginge und ihn unter dem Winde dem Sahib zutriebe.«
»Allah! Seit wann werden Tiger von nackten Männern wie Rindvieh getrieben?« rief Gisborne entsetzt über des Mannes Kühnheit.
Wiederum lächelte Mogli sanft. »Nun, dann komm mit mir und erlege ihn auf deine Art mit der schweren englischen Büchse.«
Gisborne folgte den Fußspuren seines Führers, kletterte, klomm, kroch und wand sich durch alle Mühen eines schweren Dschungelpirschgangs. Er war hochrot und schweißtriefend, als Mogli ihn schließlich aufforderte, den Kopf zu heben und über einen bläulichen Felsblock dicht bei einem kleinen Bergteich zu spähen. Der Tiger lag ausgestreckt beim Wasser und leckte sich träge und wohlig seine riesige Vorderpranke sauber. Er war alt, gelbgezähnt und über und über räudig, bot aber doch, wie er so in der Sonne dalag, einen gewaltigen Anblick.
Gisborne hatte keinerlei falsche jagdliche Bedenken, wenn es sich um einen Menschenfresser handelte. Dieses Gewürm da mußte so bald wie möglich ausgetilgt werden. Er wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, stützte das Gewehr auf den Felsblock und pfiff leise. Die Bestie wandte langsam den eckigen Kopf, kaum zwanzig Schritt von der Mündung der Büchse entfernt, und Gisborne legte ganz geschäftsmäßig seine Schüsse hin, den einen unter die Schulter und den anderen dicht unter das Auge. Auf so kurze Entfernung bieten die schweren Knochen des Tigers keinen Schutz gegen Stahlmantelgeschosse.
»Na, es lohnt sich nicht einmal, ihm die Haut abzuziehen«, sagte Gisborne, als sich der Rauch verzog und das Tier sich im Todeskampf wälzte.
»Einen Hundetod für den Hund«, bemerkte Mogli gelassen. »Ja, an dem Kadaver da ist nichts, was man mitnehmen könnte.«
»Die Barthaare, schneidest du ihm nicht die Barthaare ab?« sagte Gisborne, der wußte, welchen Wert seine eingeborenen Heger auf solcherlei Dinge legten.
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