»Warum soll ich gehen?« fragte sie, als sie eines Abends wieder auf dem Dach saßen.
»Überall wütet die Krankheit und das Volk stirbt dahin. Alle weißen mem-log sind bereits fort.«
»Alle?«
»Alle - höchstens ist noch hie und da ein Dickschädel zurückgeblieben und macht dem Gatten das Herz schwer, indem sie sich der Todesgefahr aussetzt.«
»Oh, die dableibt, die ist meine Schwester, und du darfst sie nicht beschimpfen, denn ich will auch so ein Dickschädel sein. Ich bin froh, daß die Frechen der weißen mem-log alle fortgegangen sind.«
»Spreche ich mit einer Frau, oder mit einem Kind? Geh in die Berge und ich werde dafür sorgen, daß du wie eine Königstochter reist. Denk nur, Kind: in einem rotlackierten Ochsengefährt, verschleiert und hinter Vorhängen, Messingpfauen auf dem Verdeck und rote Tuchbehänge! Zwei Ordonnanzen gebe ich dir mit zum Schutz, und -«
»Still! Jetzt sprichst du wie ein Kind! Was soll mir dieser Tand? Tota hätte die Ochsen getätschelt und mit dem Zierat gespielt - vielleicht seinetwegen hätte ich mich zur Engländerin machen lassen und wäre gereist. Aber so? Ich will nicht. Sollen die mem-log davonlaufen!«
»Aber ihre Gatten schicken sie doch fort, Geliebte!«
»Eine treffliche Ausrede. Seit wann bist du mein Gatte gewesen, um mir zu sagen, was ich tun soll? Ich habe dir lediglich einen Sohn geboren. Du allein bist das Um-und-Auf meiner Seele. Wie könnte ich abreisen mit der Furcht im Herzen: was, wenn dich ein Unheil befällt? Und wenn es auch nur gering wäre wie der Nagel meines kleinen Fingers - und der ist doch gewiß klein, nicht wahr? - ich würde es merken, und wäre ich selbst im Paradies! Und wenn ich denke, du könntest hier sterben im Sommer - ai, jani, - sterben! Ans Sterbebett würden sie dir ein weißes Weib schicken! Sie würde mir deine Liebe rauben!«
»Liebe entsteht nicht in einem Augenblick und auch nicht auf dem Totenbett.«
»Was verstehst du von Liebe, du steinernes Herz? Sie würde deinen Dank mit sich nehmen, und das, bei Gott und dem Propheten und bei Bibi Mirjam, der Mutter des Propheten, - das könnte ich nicht ertragen. Mein Herr und Geliebter, sprich nicht mehr so närrisch zu mir von Weggehen! Wo du bist, da bin auch ich. Es ist genug.« Und sie schlang ihren Arm um seinen Nacken und verschloß ihm den Mund mit der Hand.
Kein Glück ist so überwältigend, wie das unter dem Damoklesschwert! Sie saßen beisammen und lachten - gaben einander Kosenamen, offen und ohne Scheu vor der Eifersucht der Götter. Unten die Stadt wand sich in Qual und Angst; Schwefelfeuer schwelten in den Straßen, die Tritonmuscheln in den Hindutempeln heulten und bellten, denn die Götter waren unaufmerksam in jenen Tagen. Ein Gottesdienst wurde abgehalten vor dem großen mohammedanischen Heiligenschrein, und unaufhörlich tönten die Gebete von den Minaretten. Aus den Häusern erscholl Totenklage und da und dort der Schrei einer Mutter, die ihr Kind verloren hatte und verzweiflungsvoll jammerte, es möge wieder zum Leben erwachen. Sie sahen, wie man die Leichen hinaustrug durch die Stadt, ein kleines klagendes Gefolge hinterdrein, sahen es, küßten sich und schauderten.
Der Tod hielt eine furchtbare Ernte, denn das Land war krank und brauchte eine Atempause, ehe das ärmliche Leben wieder anfangen konnte, auch nur schwach zu pulsieren. Die Kinder unreifer Väter und unentwickelter Mütter leisteten der Epidemie gar keinen Widerstand; es überfiel sie und sie saßen still, bis das Schwert des Novembers sie hinraffte, wenn das Schicksal es wollte. Auch in die Reihen der Engländer wurden Breschen gerissen, aber immer wieder von neuen Menschen ausgefüllt. Die Hungersnotbehörde trat in Tätigkeit, Cholerabaracken erstanden, Medizinen wurden verteilt, - kurz alle die kleinen, fast wirkungslosen Sanitätsmaßnahmen wurden getroffen, die die Regierung befohlen hatte.
Holden mußte sich bereit halten, jeden Augenblick seinen Vormann zu ersetzen, falls dieser weggerafft werden sollte. Oft vergingen zwölf Tagesstunden, ehe er Ameera wiedersehen durfte, - sie konnte inzwischen gestorben sein! Er malte sich den namenlosen Schmerz aus, wenn ihn das Los träfe, drei Monate fern von ihr sein zu müssen; oder wenn sie stürbe in seiner Abwesenheit. So gewiß wußte er in seinem Innern, daß sie ihm entrissen werden würde, so unfehlbar gewiß, daß er nur krampfhaft auflachte, als eines Tages Pir Khan atemlos vor ihm stand im Torweg. »Und?« fragte er kurz ---
»Wenn in der Nacht sich ein Schrei aus der Brust ringt und der Geist die Kehle drosselt, wer hätte da noch einen helfenden Zauberspruch? Komm schnell, Hirnmelsentsprossener! Es ist die schwarze Cholera.«
Holden raste auf seinem Pferd in gestrecktem Galopp nach Hause. Der Himmel war schwer von Wolken, denn der lang ersehnte Regen hing in der Luft; die Hitze brütete zum Ersticken. Ameeras Mutter kam ihm entgegen in den Hof und winselte: »Sie stirbt. Sie huschelt sich selbst in den Tod hinein. Sie ist fast schon gestorben. Was soll ich tun, Sahib?«
Ameera lag in dem Zimmer, in dem sie Tota geboren hatte. Sie erkannte Holden nicht mehr, als er eintrat; die menschliche Seele ist ein einsames Wesen: wenn sie sich rüstet zum Aufbruch, schweift sie hinüber in das dunkle Grenzland, in das ihr die Lebenden nicht folgen können. Die schwarze Cholera vollbringt ihr Werk, stumm - erbarmungslos, aber ohne Kampf. Ameera schied aus dem Leben, als hätte der Engel des Todes selbst sie bei der Hand genommen. Die schnellen Atemzüge bewiesen, daß sie weder litt noch sich fürchtete, aber weder Lippen noch Augen gaben eine Antwort auf Holdens Küsse. Da war kein Rat mehr und keine Hilfe. Holden konnte nur schweigen, warten und leiden. Draußen fielen die ersten Regentropfen auf die Dächer, und er konnte die Freudenschreie hören, die durch die Straßen der entvölkerten Stadt liefen.
Da kam die Seele Ameeras für einen Augenblick zurück und die Lippen bewegten sich. Holden beugte sich über sie. »Nimm nichts von meinen Sachen«, flüsterte sie, »nimm nicht ein Haar von meinem Haupte. ›Sie‹ - die Andere -, würde später alles verbrennen. Die Flamme würde auch mich verzehren! Tiefer! Beug dich tiefer zu mir herab! Nur an das eine denke immer: daß ich dein war und dir einen Sohn geboren habe. Und wenn du morgen ein weißes Weib freiest und hältst in den Armen deinen Sohn, - einen Sohn, der vor allen Menschen deinen Namen tragen wird, - so denke an mich. Alles Unheil, das ihn treffen könnte, falle auf mein Haupt. Zeuge bin -« Ihre Lippen hauchten die Worte des mohammedanischen Glaubensbekenntnisses in sein Ohr: »Zeuge bin ich: es gibt nur einen Gott - aber das bist du, Geliebter!«
Dann verschied sie. Holden saß regungslos, und alles Denken war von ihm gewichen, bis er hörte, daß Ameeras Mutter den Vorhang hob.
»Ist sie tot, Sahib?«
»Tot.«
»Dann will ich die Totenklage anstimmen und nachher ein Verzeichnis der Möbel aufnehmen. Denn es gehört mir. Der Sahib wird sie doch nicht beanspruchen? Es ist wenig, Sahib, sehr, sehr wenig, und ich bin ein altes Weib. Ich möchte es gern behaglich haben.«
»Um Gottes Barmherzigkeit willen, schweig! Geh hinaus und stimm die Totenklage an, wo ich es nicht höre.«
»Sahib, sie muß in vier Stunden bestattet werden!«
»Ich weiß, es ist so Sitte. Ich werde gehen, ehe sie sie holen. Ich lege es in deine Hand. Sieh zu, daß das Bett, auf dem - auf dem sie liegt -«
»Aha! Das schöne rotlackierte Bett. Ich hab's schon lang gewünscht.«
»Daß das Bett unberührt bleibt und zu meiner Verfügung. Alles übrige im Haus ist dein. Miete einen Karren, nimm alles, geh fort; noch vor Sonnenuntergang darf nichts mehr hier sein, außer das, was du zu respektieren hast, wie ich dir gesagt habe.«
»Ich bin ein altes Weib. Wenn ich wenigstens bleiben könnte über die Tage der Totenklage, und bis der Regen nachläßt. Wohin soll ich denn gehen?«
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