Scharlatane, die ich für meinen Zweck einspannen kann, finden sich unter den Eso-Gurus haufenweise. Grenzerfahrungsparty mit dem Ehrengast Sensenmann. Ich google „mit Verstorbenen in Kontakt treten“ und erhalte achthundertelftausend Hits. Ein paar Klicks weiter und ich stoße auf das Angebot eines Jenseitsmediums, das sich als erfahrener Führer durch das Schattenreich anpreist, seine außergewöhnlichen Fähigkeiten ein Geschenk Gottes. Derartige Hybris ist abstoßend, aber die Eso-Fraktion maßt sich gerne spezielles Juju an. Hier kann ich ansetzen. Die konkrete Umsetzung benötigt noch einiges an Detailarbeit, aber fürs Erste bin ich zufrieden. Die Erreichung meiner Quote rückt in den Bereich des Möglichen. Sorgen über eine Überernte und in Folge zu wenig Saatgut, um eine dauerhafte Versorgung mit nachwachsenden Seelen zu gewährleisten, stelle ich im Augenblick hinten an. Eines nach dem anderen. Als nächstes steht ein Besuch bei meinem Kollegen und Freund Väterchen Zeit auf dem Plan. Die Langfristigkeit unserer Perspektive eint uns. Ich hoffe, dass er etwas Licht auf das Rätsel von Michaels Kardinal werfen und mir wieder mal aus der Patsche helfen kann.
Sein Büro liegt nur zwei Türen weiter. Abgeschiedener Trakt. Ende eines langen Flurs. Exil für die Unbequemen. Entgegen landläufiger Vorstellungen ziert sein Büro keine überdimensionierte Sanduhr, sondern ein kompliziertes Konstrukt aus ineinandergreifenden Möbius Bändern, auf denen sich Kugeln mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen. Konstant in eine Richtung läuft hier gar nichts.
Väterchen Zeit verschwendet kein unnötiges Wort. Fragend zieht er seine rechte Augenbraue in die Höhe und ich nicke stumm. Damit ist seine Einladung zu einer Kanne Butterfly-Pea-Tee angenommen. Er ist ein Aficionado und auch ich habe das milde blaue Gebräu in unzähligen Besuchen schätzen gelernt. Wohliges Schweigen umfängt uns, während er die getrockneten Blüten mit kochendem Wasser übergießt und den Tee vier Minuten ziehen lässt. Es dauert durch die erste Tasse hindurch an, erst dann fordert er mich mit einem knappen Kopfsenken auf, mein Anliegen vorzubringen.
„Michael ist hinter einer Seele her. Im Logbuch des Betragens finden sich keinerlei Hinderungsgründe, aber ich habe meine Bedenken.“
Wortlos schiebt er mir Füllfeder und Zettel zu, auf den ich in gestochenen Druckbuchstaben den Namen des Kardinals schreibe. Ahnungslose würden den Apparat vor dem Fenster für ein gewöhnliches Fernrohr halten. Der Herr der Zeit lässt sich in dem davor platzierten Sessel nieder und presst seinen Daumen auf einen Scanner, was die Verschlussklappe aufschnappen lässt. Jedem anderen ist es strengstens verboten, einen Blick durch das Gerät und damit in die Zukunft zu werfen. Väterchen Zeit adjustiert mittels der silbernen Steuerungskonsole Koordinaten und starrt beinahe fünf Minuten schweigend in den Himmel, bevor er erneut mit seinem Daumen die Anlage vor unerlaubten Zugriffen schützt.
„Das moralisch Verwerfliche ist da, schlummert unter einem dünnen Furnier aus gesellschaftlichen Konventionen. Maximal zwei Wochen und der Kardinal gehört laut Vorschriften eindeutig zu Luzifer. Welche Untat er begehen wird, verrate ich dir natürlich nicht. Nun musst du entscheiden, ob du diese Seele jetzt erntest, Böses verhinderst, aber dafür die Scheinheiligkeit eines Kirchendieners in alle Ewigkeit aufrechterhälts, oder ob du die Missetat geschehen lässt und dein Kardinal die Unendlichkeit in Schande unter zwielichtigen Kumpanen fristet.“
Laut letztem Amnesty-Bericht wird zwar in über hundertvierzig Staaten, nicht aber in der Hölle, gefoltert. Das Schamgefühl ist die einzig wirkliche Strafe für die gefallenen Seelen, während ihre himmlischen Gegenstücke in Selbstgefälligkeit baden. Zwar halten es einige mit „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“, aber einem Mann der Kirche würde die Ächtung vermutlich doch zusetzen. Zumindest würde ihn der Spot seiner Ewigkeits-Genossen peinigen.
Ein delikates Dilemma. Nur der Große Venture Capitalist sieht die Welt in simplem Schwarz-Weiß. „Was rätst du mir?“, frage ich wider besseres Wissen, aber natürlich enthält sich mein Gegenüber jeglicher Beurteilung. Ich muss die Angelegenheit also mit meinem Gewissen ausmachen, die Konsequenzen auf meine Schultern laden. Schändliches verhindern oder die Genugtuung, eine verdorbene Seele ihrer wohlverdienten Strafe zugeführt zu haben, was wiegt stärker?
„Sag mir nur eines“, bitte ich meinen Freund, „besteht die Gefahr, dass er mit dieser verdammten Beichtklausel davonkommt?“
Väterchen Zeit schüttelt sein weißes Haupt: „Zu eindeutig fehlende Reue.“
Damit sind meine inneren Würfel gefallen. Ich bedanke mich bei meinem Verbündeten und wir verabschieden uns mit einem herzlichen Händedruck.
Da ich Michael kein direktes Nein in sein Engelsgesicht schleudern will, bleibt mir nur die Taktik des Zeit-Schindens. Maximal vierzehn Tage, hat mein Kollege
gesagt, das lässt sich hinbiegen. Damit habe ich genügend Stunden im Büro vergeudet. Den Rest des Tages widme ich mich meiner Kernaufgabe, dem Durchtrennen von Lebensfäden. Morgen werde ich dann weiter an meinem Projekt Grenzerfahrungsparty mit dem Sensenmann feilen.
Die gestrige Ernte war erfolgreich. Saubere Handarbeit, die tausenden Seelen einen achtsamen, schmerzlosen Übergang bereitet hat. Beim Verspeisen meiner Ham & Eggs verspüre ich die Genugtuung eines gewissenhaft erledigten Jobs. Heutzutage wird nach meinem Geschmack viel zu viel Trara um persönliche Motivation und Erfüllung in der Arbeit veranstaltet. Selbst- und Sinnfindung im Job. Damit werten wir ehrliches Schaffen ab. Ein guter Teil der Tätigkeiten ist ohnehin sinnlos und unproduktiv. Wieviel Lifestyle-Blogger, Kommunikationskoordinatoren oder Digital Marketing Spezialisten, die Konsumenten dazu zu bewegen versuchen, überflüssige Produkte zu kaufen, braucht die Menschheit wirklich? Interessanterweise verwenden gerade sie viel Energie darauf, ihre Bedeutung in einem kranken kapitalistischen System künstlich aufzublasen, während Straßenkehrer oder Bauern einfach ihre Arbeit verrichten, ohne beständig über deren tieferen Sinn nachzugrübeln oder zu versuchen, ihr Image mit banalen Postings in Online-Foren aufzupolieren.
Mir genügt die Gewissheit, mein Handwerk zu beherrschen. Da mich kein Meeting von der Arbeit abhält, steht ein produktiver Tag bevor. Ich habe mir für heute ein hohes Pensum vorgenommen, um mir einen Puffer zu verschaffen. Zuvor muss meine Sense noch gedengelt werden. Qualitätsarbeit setzt perfekt in Schuss gehaltenes Werkzeug voraus. Auf einem flachen Amboss hämmere ich das Sensenblatt mit wohldosierten Schlägen vom Bart zur Spitze hin aus und entgrate mein Arbeitsgerät abschließend noch mit einem Wetzstein. Als finalen Test lasse ich eine Daune auf die Schneide hinabgleiten. Mühelos durchtrennt sie das federleichte Gebilde. Mein Tagewerk kann beginnen.
Die ersten viereinhalb Stunden ernte ich Seelen für Michael, sammle diese und geleite sie abschließend als Gruppe über die Schwelle zu ihrer Etage im Jenseits. Müde vom Sensen und der ständigen Teleportation gönne ich mir dreißig Minuten Pause, bevor ich dasselbe Programm für Luzifer absolviere. Beim Durchschneiden der Lebensfäden begegnen mir die vertrauten Reaktionsmuster: Ungläubigkeit, Zorn, Flucht- und Verhandlungsversuche, Jammern, manchmal Würde, ganz selten Humor. Der größte Schock für die meisten besteht darin, dass sie über den Tod hinaus sie selbst bleiben, in alle Ewigkeit nichts Anderes und niemals mehr als ihre irdische Person sein werden. Keine wunderbare Transformation von Dummen in Kluge oder Sündern in Anständige. „Du bist dazu verdammt, der zu bleiben, der du am Ende deines Lebens warst und dir selbst auf immer Gesellschaft zu leisten“, lautet das gnadenlose Urteil des Jüngsten Gerichts.
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