Aber bei meinen ersten Besuchen sah ich mich eher als lernbegierigen Schüler, der den alten Meistern ihre Geheimnisse ablauschte. Ich verstand die Themen, ohne ihnen sonderlich viel Gewicht beizumessen, es sei denn, in den dunkleren Tiefen meines Unterbewusstseins, dem Raum, der nicht ganz unbewusst, aber auch nicht hell bewusst ist.
Oberflächlich interessierte mich mehr der Pinselstrich. Das geheimnisvolle Halbdunkel mit seinen Schattierungen, die gegeneinandergesetzte Farbe, die Deutlichkeit oder Undeutlichkeit der Konturen, das kleine Detail. Ich war von den Details in Bann gezogen, ohne das Ganze zu sehen. Das änderte sich erst, als ich Boschs verstecktes Selbstporträt entdeckte.
Montag folgte mir nie wie ein gewöhnlicher Museumswächter durch die Säle der Galerie. Manchmal sah ich, dass er einer Schulklasse nachging, aber immer in gehörigem Abstand, um nicht zu stören.
Dann stand er versunken da, die Hände vor dem Bauch übereinandergelegt, den grauen Kopf leicht geneigt, als lausche er irgendwelchen Stimmen aus der Tiefe des Raumes. Und wenn sich das Tross der albern kichernden Schüler mit den üblichen Schwierigkeiten in den benachbarten Saal bewegte, gab er einfach stumm nickend seine Verantwortung an den nächsten Wächter ab. Es verstärkte noch mehr den Eindruck in mir, dass ich irgendein gläserner Gegenstand für ihn war.
Einmal stand ich vor Pieter Bruegels Die Blinden , einer Leihgabe des Nationalmuseums Neapel, und ließ so laut einen fahren, dass er wegen dieser Frechheit unwillkürlich den Kopf hätte wenden müssen.
Aber er schien nicht nur blind zu sein für uns gewöhnliche Sterbliche – so blind wie die Gestalten auf dem berühmten Bild, die, lange Stöcke in den Händen, in die Luft blickend übereinander purzelten –, sondern auch taub. Ich gab einen noch krachenderen Ton von mir – ich furzte, was das Zeug hielt, bis mir die Luft ausging. Ohne Ergebnis.
Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich in die Ecke pinkelte, unter die Kordelabsperrung von Boschs Weltgerichts -Triptychon, einem der teuersten Gemälde der Welt. Würden dann die Sirenen losheulen und die halbe Stadt meinem Abtransport im vergitterten Polizeiwagen beiwohnen?
Oder kam nur jemand von den dienstbaren Geistern wie auf einen geheimen Befehl mit dem Aufnehmer, um wortlos die Spuren meiner Schandtat zu beseitigen?
Die Atmosphäre des Nationalmuseums bekam seit diesem Tage etwas Kafkaeskes für mich. Oder noch besser: Ich traute Montag zu, dass er sich wie ein Yogi durch die Sutren des Patanjali in die Lüfte erhob und zur gläsernen Kuppel des Saales emporschwebte. Mit oder ohne Stuhl. Er setzte die Schwerkraft außer Kraft, weil sie sich als etwas erwies, das nichts weiter als ein Spuk in unseren Köpfen war, eine durch Gewohnheit erzeugte Erwartung. Ich misstraute schon damals den Gesetzen der Physik.
Wenn doch zugegebenermaßen keiner von den Herren Physikern zu sagen wusste, was die Schwerkraft wirklich war – »eine Krümmung des Raumes«, was für eine grandiose geistige Krücke, welche Worthülse für das Rätsel, um seine Unwissenheit mit ein paar mathematischen Formeln zu bemänteln! –, dann konnte sie auch jederzeit ihre andere, unbekannte Seite zeigen, die gewöhnlich verborgen war.
Also floh ich an diesem kafkaesken Vormittag Hals über Kopf aus dem Museum, um nicht miterleben zu müssen, wie sich unser Universum langsam in seine erlogenen Bestandteile auflöste. Ich würde niemals Physiker werden. Dazu war ich zu schlau …
Ich hatte bereits zuviel vom Baum der Erkenntnis gegessen, der unsere naive, so handfest erscheinende Alltagsrealität, die aus krümelartigen bewusstseinsunabhängigen Materiepartikeln bestehen soll, als bloßes Vorurteil entlarvte.
Aber vielleicht würde ich meine Rolle noch eine Weile weiterspielen müssen. So wie die Kirche den Gläubigen vorlog, Jesus sei über das Wasser des Sees Genezareth gelaufen, um schwankende Seelen zu frommer Gesinnung zu überreden.
Beim Mittagessen saß ich schweigend und in Gedanken versunken am Tisch, um eine Lösung für mein Problem zu finden. Ohne das übliche Gefühl von Ekel übrigens, das mich sonst bei Fleischgerichten befiel. Es gab Hühnersuppe und danach das übliche Aas vom Schwein mit Dampfkochtopf-gegarten Möhren und Kartoffeln. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, bald ins Lager der Vegetarier überzuwechseln, machte mir Fleisch heute nichts aus …
Die Lösung war wie jeder große Einfall einfach. Wenn Montag mir nicht folgte, würde eben ich ihm folgen! Wenn er mich nicht beachtete und durch mich hindurchblickte, würde ich ihn nur um so genauer beobachten.
»Wieder bei irgendwelchen tiefgründigen Theorien über den wahren Ursprung des Universums, Marc?«, erkundigte sich meine Mutter.
Meine Schwester lachte und beugte sich so weit vor, dass ich in ihren Ausschnitt sehen konnte. Sie wusste, wie sie auf mich wirkte, und nutzte das bei jeder Gelegenheit aus. Sie ließ mich meine menschliche Begrenztheit spüren, die Fesseln der Sexualität, die den aufrichtig strebenden Mönch versuchen und aus der Bahn werfen sollten. Anja hatte mein verdammtes Tagebuch aufgestöbert, ein billiges Notizheft, und der erste Satz darin, datiert zweieinhalb Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag, lautete, dass ich mich entschieden hatte, fortan der Sexualität zu entsagen, weil sie eine Irreführung des Intellekts sei.
Ihre Gabel durchbohrte ein Stück Aas.
»Er ist in der Pubertät«, erklärte sie mitleidig lächelnd und führte das aufgespießte Stück Aas an ihren sinnlichen Mund. »Er versucht mit seinen philosophischen Flausen der Geschlechtsreife zu entkommen. Aber niemand entkommt der Sexualität. Die Anziehung unter den Geschlechtern und der Beischlaf sind die stärksten Kräfte im Leben.«
Stärker als die Gravitationskraft, dachte ich. Und mindestens genauso illusionär.
»Ich bitte dich, Anja, nicht vor den Kindern«, sagte meine Mutter errötend. »Rolo ist erst elf, er ist noch zu jung für so was.« Sie war tatsächlich immer noch so prüde wie eine Matrone der fünfziger Jahre.
Anja legte prustend ihre Gabel weg …
Die Unschuld ist nichts, was uns in die Wiege gelegt wird, wie ein paar idealistische Träumer glauben. Und falls doch, so verlieren wir sie schon wenige Augenblicke nach der Geburt, wenn wir zum erstenmal an der Mutterbrust entdecken, dass wir hoffnungslos dem Geschmack am Leben verfallen sind.
Dass mich die Öffentlichkeit heutzutage in der Rolle des Modearztes sehen will, eines modernen Gurus, eines »weltlichen Priester« für alle Fragen und Lebensprobleme, einer Rolle, die mir kaum noch Zeit lässt, mich meinen Forschungen an der Universität zu widmen, verdanke ich wohl – will man nicht von Vorsehung reden – meinem damaligen Entschluss, diesem merkwürdigen Mann im Museum zu folgen – zu folgen in mehrfacher Hinsicht.
Aber damals ahnte ich noch nichts von den Höhen und Tiefen, in die mich seine Bekanntschaft stürzen würde …
Ich wartete ab, bis das Museum schloss, und folgte Montag langsam durch die menschenleeren Straßen.
Er ging über die steinerne Brücke und dann durch eine sehr alte Gasse, die von den Bombenangriffen des Weltkriegs verschont geblieben war. Sein Haus war ein scheußliches Gebäude aus der Vorkriegszeit, in dem neunzehn Parteien lebten – mit so gleichmäßig geschwärzten Fassaden, dass man glauben konnte, die Patina sei seine ursprüngliche Farbe. Einige Zimmer seiner Wohnung lagen im Erkerturm.
In Kopfhöhe an den Hauswänden befanden sich die üblichen Kreidesprüche, abgestuft nach Schulaltern. An ihnen ließ sich leicht die psychologische Theorie bestätigen, dass jedes Lebensalter seine eigene Sprache hat und über andere Dinge lacht. Und wenig verrät mehr über unsere Schwächen als das, worüber wir lachen!
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