Als ich zum Mittagessen nach unten ging, brach der Lärm abrupt ab. Dann ertönte ein langanhaltender Schrei. Gleich darauf flog die Tür auf, und Anja stürzte an mir vorüber nach unten.
»Hab’ ich dir nicht gesagt, tu das nie wieder?« rief sie, als sie im Esszimmer angelangt war. »Ich bringe dich um. Ich erwürge dich mit bloßen Händen …«
Ein Stuhl kippte auf den Boden.
»Sie tut’s wirklich. Die kleine Nutte bringt mich um«, jammerte Rolo. Meine Mutter hatte unbedingt im reifen Alter von zweiundvierzig Jahren noch ein weiteres Kind zur Welt bringen müssen.
Er riss sich los und verschwand wieselflink unter dem Tisch. Wegen der herabhängenden Tischdecke konnte man nicht erkennen, wo er sich gerade befand.
Ich setzte mich an meinen Platz und begann gelangweilt die Frankfurter Allgemeine zu studieren. Es war nur wieder eine der üblichen kleinen Familienszenen, eine Art Overkill des Familienlebens.
Es gab keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Man konnte nur abwarten, bis die Kräfte, die für ihre Gedanken verantwortlich waren, zufällig jene indeterminierten Quantensprünge machten, die von der Physik als das wahre Prinzip der Mikrophysik angesehen wurden: Zufall und Chaos. Oder allenfalls noch statistische Wahrscheinlichkeit.
»Warum hilfst du mir nicht, du verdammter Ignorant?«, fragte Anja und trat wahllos mit dem Fuß gegen das Tischtuch. »Eines Tages wird sich das kleine Ungeheuer auch dich vornehmen, dann gnade dir Gott …«
»Mal bin ich ein Ignorant und mal mische ich mich in deine Angelegenheiten ein.«
»Er war wieder in meinem Zimmer.«
»Schließ einfach die Tür ab …«
»Ich hab’ nur ein bisschen nach dem Rechten gesehen«, erklärte Rolo unter dem Tisch.
»Was hast du denn in meiner Tasche zu suchen gehabt?«
Sicher irgend etwas, das Mädchen für Jungen interessant machte, dachte ich. Liebesbriefe, Tagebücher. So würde die Sache noch bis in alle Ewigkeit weitergehen, abgeschmackt und ohne jedes Gefühl für Würde. Wir waren keine Familie, die sonderlich aus dem Rahmen fiel. Wir waren eine stinknormale Familie, gewöhnlich und roh wie ein unbehauener Holzklotz.
Wahrscheinlich leiden alle Familien auf der Welt an irgendwelchen speziellen Verrücktheiten. Meine Mutter zum Beispiel litt schrecklich unter der Vorstellung, dass die Ressourcen der Erde versiegen könnten. Sie wurde von der fixen Idee geplagt, künftige Generationen verfügten über kein Erdöl mehr und müssten ihren Kaffee mit verseuchtem Wasser kochen. Sie war bemerkenswert hellsichtig in einer Zeit, in der der Club of Rome gerade seine Studie über »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlicht hatte.
Irgendein überdrehter Psychiater, den mein Vater für sie konsultierte (sie selbst wäre niemals auch nur in die Nähe seiner Praxistür gekommen), war der Meinung, es handele sich um einen schwer behandelbaren existentiellen Konflikt. Eifersucht, Frigidität, Depressionen: kein Problem.
Aber bei den Existenzkrisen seien die Überzeugungen genauso fest verwurzelt wie bei Paranoia. Er riet ihr, in die Politik zu gehen.
»Sie wollen, dass ein seelisch kranker Mensch in die Politik geht, um gesund zu werden?«, fragte mein Vater.
»Das wäre eine durchaus gängige Form der Selbstbehandlung«, bestätigte er.
Ich stand gähnend auf, legte die Zeitung weg und ging zur Tür, ohne die anderen noch eines Blickes zu würdigen.
Im Flur kam mir Hanna mit einem Tablett aus der Küche entgegen. Vermutlich hatte sie wieder eines ihrer hochexplosiven Gemische im Dampfkochtopf angerichtet, durch das sie unsere Gesundheit auf Trab brachte. Je mehr Vitamine und Mineralien, desto besser, und das gelang am besten, wenn kein einziges Molekül davon durch den offenen Deckel entfleuchen konnte.
Das Gesicht meiner Mutter sah nach dem Kochen immer gerötet und verschwitzt aus. Manchmal verlief die schwarze Wimperntusche so in ihren Krähenfüßen, dass man glauben konnte, an ihren Augenwinkeln klebten kleine südamerikanische Skorpione.
Sie war gerade mal dreiundfünfzig, aber ich fand, dass ihr die Arbeit im Parlament nicht bekam. Sie übernahm sich damit.
»Hallo, wohin des Weges?«, erkundigte sie sich. »Wir essen gleich. Oder hat unser kleiner Outcast schon wieder die Nase voll von unserer Familie?«
Wenn ich das Nationalmuseum betrat, saß er meist auf seinem einfachen Holzstuhl an der Wand, dem Narrenschiff von Hieronymus Bosch gegenüber, das eine vielbewunderte Leihgabe des Louvre war. Es zeigt eine ziellos auf dem Meer schwimmende Barke, vollbesetzt mit Verrückten, die essen, trinken, musizieren, sich streiten.
Einer klettert mit seinem Messer am Mast hoch, wo ein Braten hängt, doch keiner scheint auf den Gedanken zu kommen, bis zu dem an der Mastspitze angebundenen Strauch zu klettern, in dem eine Eule – der Vogel der Weisheit – sitzt.
Trotz seines altmodischen Motivs schien es mir ein ganz modernes Gemälde zu sein, das einen tragischen Sinn für das Unglück des menschlichen Lebens offenbarte.
Es war eines meiner Lieblingsbilder, nicht nur wegen der harmonischen, in feinsten Braun- und Beigetönen abgestimmten Farbkomposition und seiner an Karikaturen gemahnenden menschlichen Gestalten.
Es war dieselbe Verlorenheit an die Welt, die ich auch in meiner Umgebung wahrnahm. Ich schlich mich jedes Mal mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung aus dem Haus, wenn ich in die Galerie ging, denn fünf oder zehnmal dasselbe Museum zu besuchen, hätte mein Versprechen, mich einem handfesten Gewerbe wie dem des Physikers zu verschreiben, sofort als Lüge entlarvt.
Ich weiß nicht, ob Montag – merkwürdigerweise hieß er wie der erste Tag der Woche – mich wiedererkannte.
Er sah so freundlich lächelnd durch mich hindurch, als sei ich klares Glas. Einen Moment lang irritierte mich sein Blick, weil ich argwöhnte, ich könnte bereits die Physiognomie meines Vaters angenommen haben, der ebenfalls aus Glas war.
Doch als ich weiterging, streifte ich diesen Eindruck ab wie einen lästigen Gedanken, den man denken konnte oder auch nicht. Es war lediglich eine Frage der Macht, die der Geist über seine eigenen Vorstellungen erlangte.
In der Halle nebenan befand sich ein noch berühmteres Bild aus dem Prado in Madrid: Boschs Triptychon Der Garten der Lüste .
Die Wanderausstellung mit seinen Bildern blieb nur für kurze Zeit in der Stadt, deshalb nutzte ich jeden unverdächtigen Augenblick, um soviel wie möglich davon aufzunehmen: das ganze Spektrum der Ausschweifungen, den Hexenkessel der Gefühle und Begierden, das Jüngste Gericht, die Höllenstrafen, die Todsünden, die Versuchungen mit ihren grausam-angstvollen Phantasien.
Seine Gestalten waren Personifikationen von Lastern, Ausgeburten der Unterwelt in monströser Hässlichkeit. Abenteuerliche Tiergestalten dienten den Menschen als Reittiere. Liebende und sich vereinigende Menschen schwammen in Muscheln, waren in Früchten und gläsernen Käfigen gefangen. Teufel in Tiergestalt, Bestien, fratzenhafte Gnome verrichteten ihr erbarmungsloses Geschäft.
Wuchernde Pflanzen (und immer wieder Erdbeeren, Erdbeeren für die sinnliche jungfräuliche Vulva), Fruchtblasen, überproportional abgebildete Tiere symbolisierten die verschiedenen Sünden und Vergehen: der Rabe den Unglauben, der Pfau die Eitelkeit, der Ibis, der die toten Fische fraß, vergangene Vergnügen.
Frage ich mich heutzutage (als alter Klinikhase und mit einer gutgehenden Psychiatriepraxis), was mich damals an dieser Kunst faszinierte, dann scheint mir, als hätte ich in ihr all jene Probleme ins Bild gesetzt gesehen, die mich auch noch in späteren Jahren beschäftigten. Es ist gewissermaßen der »Rohstoff« unserer Verrücktheiten. Die Menschen schaffen sich ihre eigene Hölle.
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