Er hielt sich eine Hand vor Augen und folgte einem der Polizisten. Unter anderen Umständen wäre es ihm eine Ehre gewesen, den Hubschrauber des Bundespräsidenten zu besteigen. Aber das mulmige Gefühl, sein Schicksal nicht selbst in der Hand zu haben, wollte seinen Bauch nicht zur Ruhe kommen lassen. Noch wusste er nicht, dass seinetwegen die ganze Republik zum Stillstand gekommen war.
Die Kabine des Helikopters war sehr geräumig, wie ein Arbeitszimmer mit kleinen Bullaugen, einem Tisch und sechs komfortablen Ledersesseln. Ein weiterer Mann in Uniform, vermutlich der Kopilot, wies ihm einen Platz zu und bedeutete ihm, sich anzuschnallen und einen der großen Lederkopfhörer aufzusetzen.
„Fehlt nur noch eine Stewardess, was?“
Herr Schulze-Wegener hatte neben ihm Platz genommen. Seine Kommentare wurden nicht besser. „Schulze“, wie alle ihn nannten, tat ihm irgendwie leid. Er war als Wachhund für ihn abgestellt worden. Doch Schulze hatte mehr von einem Schoßhündchen als von einer Bulldogge.
Sie hatten zusammen lauwarme Pizza gegessen. Auch die lag ihm schwer im Magen. Es war keine gute Idee, etwas zu essen, wenn man leichte Flugangst hatte und dann in einem Hubschrauber unterwegs war. Aber Schulze hatte ihm versichert, es sei wie Busfahren in der Luft. Er setzte seinen Kopfhörer auf. Der Lärm von draußen war nun deutlich zu hören und machte ihn zusätzlich nervös. Seine Fensterscheibe vibrierte leicht. Der Pilot drehte sich zu ihm um, hob seinen Daumen und lächelte. Dann setzte sich der fliegende Bus langsam in Bewegung. Die Vibrationen wurden schwächer. Langsam gewannen sie an Höhe.
Durch das Fenster der Kabine sah er zum ersten Mal den Menschenauflauf am Ende der Startbahn von Tegel. Das Dröhnen der Rotoren war zu laut, um den Jubel der Menschen zu hören, aber er las die Worte „Patriot“, „Freiheit“ und „Skandal“ auf mehreren Transparenten, die unter frenetischem Beifall in den Himmel gehalten wurden. Ein Wall aus grünen Polizeitransportern schützte die Zufahrt zum Flughafen.
„Mit dem Auto kommen Sie keine zwanzig Meter weit!“, hatte der Polizeichef gesagt.
„Am sichersten ist der Hubschrauber!“
Gespannt hatte er den Erläuterungen des Polizeichefs zugehört. Die Situation in Berlin war am Vormittag eskaliert, ohne dass er davon etwas mitbekommen hatte. Polizei und Demonstranten hatten sich auf der Leipziger Straße eine massive Straßenschlacht geliefert, mit zahlreichen Verletzten und hohen Sachschäden am Potsdamer Platz. Der Verkehr im Zentrum war komplett zum Erliegen gekommen. Zu viele Menschen waren auf die Straße gegangen. Sogar mehr als beim Fall der Mauer. Viel mehr. Aus ganz Deutschland waren sie in langen Autokorsos nach Berlin gefahren. Niemand wollte diesen historischen Moment verpassen.
Er machte sich Vorwürfe, weil er wusste, dass er zwar nicht der Grund, aber der Auslöser für die Demonstrationen gewesen war. Viele sahen in ihm einen lebendigen Märtyrer.
Die Regierung hatte ihm keine direkten Vorwürfe gemacht. Sie wollte seine Bedeutung in diesem politischen Pokerspiel nicht höher bewerten als nötig. Er sollte nur ein kleines Rad in diesem Getriebe bleiben. Insgeheim hoffte der Bundeskanzler, dass er der Schlüssel für eine friedliche Lösung sein konnte. Ihm war jetzt klar, warum sie ihn verhaftet hatten, aber eine Entschärfung der Situation war ohne das Einlenken der Regierung nicht möglich.
Oder doch? Er schloss die Augen, um besser nachdenken zu können.
2. IM WELTALL
Wir befinden uns mitten im Weltall und hören leise die Ouvertüre aus Richard Wagners „Tannhäuser“. Langsam wie auf einer drehenden Raumstation wendet sich der Blick den unendlichen Weiten der Erde zu, die in ihrer ganzen Pracht ins Bild schwebt und uns Europa zeigt.
ERZÄHLER
Wir schreiben das neue Jahrtausend. Alle Länder der Erde sind beseelt vom Patriotismus. Alle Länder? Nein! Ein kleines germanisches Volk leistet tapfer Widerstand!
Mit den letzten Worten des Erzählers bohrt sich ein großer Speer in die Weltkugel, so wie in jedem Asterix-Heft auf der ersten Seite. Am Ende des Speers baumelt eine zerrissene, ausgeblichene deutsche Fahne, die schon bessere Tage gesehen hat.
Ein lautes Knarzen aus seinem Kopfhörer holte ihn aus den Träumen zurück. Er konnte hören, wie der Kopilot funkte.
„Hallo? ... Nein, noch nicht ... Über dem Friedrichstadt-Palast … In Ordnung, wir drehen noch eine Runde über dem Reichstag.“
Er öffnete seine Augen. Es war ein schöner Spätsommertag. Die Abendsonne spiegelte sich in der Kuppel des Reichstags, dem sie sich langsam näherten. Wie oft war er dort oben gewesen und hatte den atemberaubenden Blick über Berlin genossen. Berlin, die Weltmetropole und Hauptstadt von Deutschland. Das Land, in dem er geboren und aufgewachsen war, das für ihn Heimat war. Sein Gedankengang brach abrupt ab.
Er konnte jetzt die Wiese vor dem Reichstag sehen, doch sie war nicht grün, sondern bunt und bewegte sich. Als sie näher kamen, erkannte er den riesigen Menschenauflauf. Rund um den Reichstag, den Tiergarten entlang bis zur Siegessäule und zum Schloss Bellevue hatten Hunderttausende ihre Zelte aufgeschlagen. Es sah aus wie eine Mischung aus Love-Parade und Flüchtlingslager.
„Meine Güte, das müssen Millionen sein!“, sagte Schulze schwer beeindruckt.
Er hatte Recht, es waren Millionen. Wie viele, konnte man nur schätzen. Er hatte sie nicht aufgefordert zu kommen. Sie waren gekommen, um seine Freilassung zu fordern und die Regierung zu zwingen, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das jahrzehntelang ein Schattendasein geführt hatte.
Er hatte nur einen vermeintlich kleinen Film über das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land gedreht. Eine unterhaltsame deutsche Selbstreflexion. Niemand hätte auch nur im Geringsten voraussehen können, dass dieser Film die Republik derartig in Aufruhr versetzen würde.
Begonnen hatte alles in Paris, vier Jahre zuvor. Patriotismus war ihm in Deutschland nie begegnet. In Frankreich war er überoffensichtlich und allumfassend. La Grande Nation eben. Davon konnte in Deutschland keine Rede sein, und er fragte sich warum. Es gab eigentlich keinen Grund, nicht von Deutschland begeistert zu sein. Er stellte sich diese Frage wieder und wieder, während er durch die Straßen von Montmartre schlenderte.
Eines Abends sah er im Kino „Bowling for Columbine“ und in ihm platzte der Knoten. Wenn Michael Moore einen unterhaltsamen Film über das amerikanische Waffenproblem machen konnte, war dies auch die richtige Form, dem Patriotismus in Deutschland auf den Zahn zu fühlen.
Ein unterhaltsamer Dokumentarfilm sollte es werden, persönlich, direkt und ganz nah an den Menschen. Ein Film über sein Verhältnis zu Deutschland und das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Heimat. Nächtelang arbeitete er an einem Drehbuch, schickte E-Mails mit Interviewanfragen an Politiker, Musiker, Manager, Sportler und Historiker. Er war sich sicher, dass das Interesse riesengroß sein würde. Die ersten Reaktionen waren durchweg sehr positiv, allerdings nicht bei den Politikern. Nur der Bundespräsident reagierte sofort und lud ihn zu einem Gespräch ins Schloss Bellevue.
3. IN EINEM KINO, IRGENDWO IN DEUTSCHLAND
Der Saal ist gut gefüllt. Es wird dunkel im Zuschauerraum. Der rote Samtvorhang öffnet sich. Langsam erscheint auf der Leinwand eine bildfüllende, im Wind flatternde deutsche Fahne. Eine sonore Männerstimme ertönt.
ERZÄHLER
Meine Damen und Herren, bitte erheben Sie sich für die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland.
Die ersten Takte des Haydn-Streichquartetts (Nationalhymne) sind zu hören, ganz leise und zart. Einige der Besucher stehen amüsiert auf. Die meisten bleiben irritiert sitzen.
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